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Unter Tage

Unter Tage

Titel: Unter Tage
Autoren: Thomas Ziegler
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nicht?«
    »Ich wohne hier«, erklärte Shreiber kühl. »Apartment neun-zwei-neun. Ich habe die Treppe genommen. Gymnastik, wissen Sie. Gut für den Kreislauf und auch sonst. Ich halte mich fit. Ich benutze oft die Treppe. Es hält frisch. Hat der Präsident nicht letztens selbst gesagt, daß mehr für die Körperertüchtigung getan werden muß?«
    »Sie dürfen hier nicht ’rumstehen«, sagte die Frau, die Beobachterin. »Keiner darf hier ’rumstehen. Es ist verboten. Wissen Sie das nicht?« Sie gewann ihre Selbstsicherheit zurück und machte einen weiteren Schritt nach vorn.
    Shreiber mühte sich ein Lächeln ab. Er mußte natürlich wirken, ungezwungen, entspannt. Er durfte keinen Verdacht erregen. Er durfte nicht zeigen, wie sehr ihn das Attentat entsetzt hatte. »Ich bin auf dem Weg zur Arbeit und es ist schon ziemlich spät.«
    »Wenn hier jeder einfach so ’rumsteht«, sagte die Frau feindselig, »dann sieht’s hier bald aus wie in einem Saustall. Es kostet ein verdammtes Geld, das alles wieder sauberzumachen. Haben Sie Ihren Mietvertrag nicht gelesen?«
    »Natürlich«, entgegnete Shreiber hastig. Er transpirierte stärker und versuchte, die undurchschaubare Situation zu analysieren. Was wollte sie von ihm? Warum hielt sie ihn auf? Was hatte man vor?
    »Sie haben den Vertrag nicht gelesen«, widersprach die Frau giftig und stemmte die kurzen, feisten Arme in die Rundung ihrer Hüften. »Vielleicht können Sie nicht einmal lesen.«
    »Ich mußte mich ein wenig ausruhen«, verteidigte sich Shreiber. Er wünschte, sich mit roher Gewalt an der Frau vorbeizuschieben, aber sie versperrte ihm bewußt den Weg und zwischen den Speckfalten, in denen ihre Augen lagen, funkelte etwas wie grausamer Spott. »Mir war schlecht.«
    »Wenn Sie die Treppen nicht vertragen können, dann benutzen Sie gefälligst die Aufzüge.« Sie schnitt eine abfällige Grimasse. »Aber vielleicht sind Sie einer von denen, die immer die Kabinen vollkotzen.«
    Hinter Shreibers Stirn arbeitete es. Wozu dieser Disput? Was wollte der Feind damit erreichen? Hilfloser Zorn übermannte ihn. Deutlich spürte er die Schlinge, spürte, wie sie immer enger seine Kehle zuschnürte, wie sie ihm die Luft abschnitt und das Denken erschwerte. »Lassen Sie mich zufrieden!« brach es wütend aus ihm hervor. »Ich brauche mir das von Ihnen nicht bieten zu lassen. Nicht von Ihnen! Treten Sie beiseite. Ich möchte jetzt gehen.«
    Die Frau sah ihn angeekelt an. »Lassen Sie sich ja nicht noch einmal erwischen. Das fehlt mir noch, daß mir so aufgeblasene Herumtreiber die Zeit stehlen. Wenn ich noch einmal feststellen muß, daß Sie die Wände vollschmieren, dann melde ich Sie beim Turmwart.«
    »Ich werde mich über Sie beschweren«, verkündete Shreiber lahm. »Und nun lassen Sie mich gefälligst vorbei.«
    Die Frau trat widerwillig zur Seite. »Scheißkerl«, sagte sie.
    Shreiber schwieg und drängte sich an ihr vorbei. Er durfte sich nicht provozieren lassen. Der Feind durfte nicht bemerken, daß er die Nerven verlor. Er mußte ruhig bleiben. Kühl.
     
    Er kennt Dich.
    Er haßt Dich.
    Für alle Zeit.
     
    »Warum sind Sie damit noch nicht fertig?« fragte Blattern scharf. »Gibt es einen triftigen Grund dafür, daß Sie noch nicht fertig sind? Können Sie mir den vielleicht auch nennen?« Blattern stand vor Shreibers Arbeitspult; ein dünner, hochgeschossener Mann Ende Vierzig, mit hektischen roten Flecken im Gesicht, die Haare gelichtet, pomadisiert und fein nach Vanille duftend, und an seinem Jackenrevers funkelte das Parteiabzeichen der Aufbaubewegung. Demonstrativ wedelte er mit einigen Computerbögen und starrte Shreiber verärgert an. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß diese Angelegenheit dringend ist? Daß es dafür Termine gibt und gewisse Leute ungeduldig darauf warten? Ich habe gesagt, es muß schnell gehen. Schnell, Shreiber. Wissen Sie, was das heißt? Wissen Sie es?«
    Shreiber befingerte irritiert den elektronischen Schreibstift und blickte mißmutig auf die flimmernde Wölbung des Monitors, der wie ein mysteriöses Fenster in den Block des Terminals eingelassen war.
    »Vielleicht«, vermutete Blattern bissig, »vielleicht sind die Analysen deshalb noch nicht fertig, weil Sie heute später gekommen sind. Vielleicht hatten Sie Wichtigeres zu tun, als sich um diese Unterlagen zu kümmern?«
    Das Licht der Deckenplatten war grell und von künstlicher, verräterischer Farblosigkeit. Nach der Dämmerung des wolkenverhangenen Tages stach es in den
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