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Unter goldenen Schwingen

Unter goldenen Schwingen

Titel: Unter goldenen Schwingen
Autoren: Natalie Luca
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sonst würde ich vor verschlossenen Toren stehen. Als der Motor zum dritten Mal abstarb, stiegen mir Tränen der Wut in die Augen.
     
    Die Sicht war schlecht, der Regen war jetzt sintflutartig und der Verkehr stockte. Ich fluchte, während ich erfolglos versuchte, mich zwischen den Autos nach vorne zu schlängeln. Mein Blick klebte an der Uhr auf dem Armaturenbrett.
    Noch 14 Minuten.
    Wieder eine rote Ampel.
    Noch 12 Minuten.
    Ich würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Bei diesem Gedanken schnürte sich mir die Kehle zu und ich fühlte einen bitteren Geschmack im Mund. Mir wurde heiß und ich lockerte hastig meinen Schal. Ich spürte, wie Tränen über meine Wangen liefen.
    Als ich endlich auf die einsame Straße neben den Gärtnereien einbog, zeigte die Uhr sieben Minuten vor 18 Uhr. Die Straße lag schnurgerade vor mir. Das heftige Unwetter machte es unmöglich, weiter als ein paar Meter zu sehen, doch ich kannte diese Straße genau. In den vergangenen Monaten war ich fast jeden Tag hier gewesen. Es war dieselbe Strecke, die der Bus nahm. Links neben der Fahrbahn lagen die Gärtnereien mit ihren Gewächshäusern, und rechts erstreckten sich hinter der Böschung brachliegende Felder. Mir blieb nur noch wenig Zeit, denn ich wusste, dass der Friedhofswärter das Tor jeden Tag pünktlich schloss.
    Noch fünf Minuten. Ich starrte durch die Windschutzscheibe auf die graue Masse vor mir und trat aufs Gas.

EIN GOLDENER SCHILD

    Die Nadel auf dem Tachometer schoss nach oben. 50 … 60 … 70 km/h. Vier Minuten vor 18 Uhr.
    Das Unwetter peitschte gegen die Fenster, so dass ich den Wagen fast blind steuerte. Ich bemerkte die Friedhofsmauer erst, als sie direkt neben mir auftauchte. Lang und schwarz erstreckte sie sich hinter der Böschung entlang der Straße. Das Tor war nicht mehr weit.
    Und dann passierte es. Mein Wagen begann zu schlittern. Die Reifen griffen nicht mehr und rutschten über die glatte Straße. Etwas durchriss den Nebel in meinem Verstand. In Panik versuchte ich, gegenzulenken, doch der Wagen schleuderte unkontrolliert über den nassen Asphalt. In diesem Augenblick realisierte ich, dass es zu spät war. Ich hatte die Kontrolle verloren.
    Eiskalte Angst überwältigte mich, als ich in den Sitz gedrückt wurde, und der Wagen unaufhaltsam auf die Friedhofsmauer zu schoss. Adrenalin jagte durch meinen Körper. Der dumpfe Schleier, der mein Bewusstsein vernebelt hatte, zerriss, ich war wieder ich selbst, und meine Gedanken waren messerscharf – gerade rechtzeitig, um zu begreifen, dass ich gleich sterben würde.
    Der Wagen drehte sich um die eigene Achse. Gelähmt vor Entsetzen, erwartete ich hilflos den Aufprall.
    Ich sah die dunkle Friedhofsmauer auf mich zu rasen und ich wusste, dass diese Mauer das Letzte war, was ich jemals sehen würde. Ich stemmte meine Arme gegen das Lenkrad und der Wagen schoss mit voller Wucht über die Böschung. Ich schloss die Augen.
    Dann, plötzlich, war da ein sanftes, goldenes Schimmern. Ich hatte noch nie zuvor etwas Ähnliches wahrgenommen. Es war so wunderschön, dass es meine Aufmerksamkeit vollkommen fesselte. Die winzige Ahnung eines Gefühls – meines letzten Gefühls – erwachte in mir, doch bevor sich ein Gedanke bilden konnte, schmetterte mein Wagen gegen die Mauer. Mit einem lauten Knall explodierte der Airbag.
    Es war nicht schmerzhaft.
    Es war einfach vorbei.
     
    Nicht, dass mir klar war, was ich erwartet hatte. Einen Tunnel? Helles Licht?
    Doch da war gar nichts.
    Ich trieb mitten in diesem Nichts, für einen Augenblick oder die Ewigkeit, ich wusste es nicht, denn Raum und Zeit waren bedeutungslos – bis plötzlich etwas erschien, eine winzige Wahrnehmung, schwach und undeutlich. Am Anfang noch sehr weit weg, näherte sie sich langsam …
    Ich entschied, dass diese Wahrnehmung wohl ein Geräusch sein musste. Ein Geräusch, das immer lauter wurde. Es drang in mein Bewusstsein, störte die friedliche Ruhe, in der ich schwebte, und erzwang meine Aufmerksamkeit. Ich konzentrierte mich. Dieses Geräusch war seltsam … es hörte sich an wie Metall, das verbogen wurde. Nein, eher wie Metall, das zerrissen wurde. Und es war sehr nah – das Geräusch kam von irgendwo über meinem Kopf.
    Bedeutete das, dass ich nicht tot war?
    Plötzlich nahm ich noch etwas anderes wahr. Es war kein Geräusch, sondern etwas sehr viel Unangenehmeres. Es war ein starker Druck auf meinen Brustkorb. Nach und nach begann ich, auch den Rest meines Körpers zu fühlen. Es war nicht
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