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Scarpetta Factor

Scarpetta Factor

Titel: Scarpetta Factor
Autoren: Patricia Daniels Cornwell
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    Ein eiskalter Wind pfiff vom East River herüber und zerrte an Dr. Kay Scarpettas Mantel, als sie die Thirtieth Street hinuntereilte.
    Obwohl es nur noch eine Woche bis Weihnachten war, konnte man in dieser Gegend, geprägt von den drei Orten des Elends und des Todes, die Scarpetta als Manhattans tragisches Dreieck bezeichnete, nichts von Festtagsstimmung bemerken. Hinter ihr lag der sogenannte Memorial Park, ein gewaltiges weißes Zelt, in dem die noch immer nicht identifizierten sterblichen Überreste der Opfer vom Ground Zero vakuumverpackt gelagert wurden. Vor ihr erhob sich das gotische Backsteingebäude der ehemaligen Nervenheilanstalt Bellevue, die inzwischen als Obdachlosenunterkunft diente. Und gleich gegenüber befand sich die Anlieferungszone der Gerichtsmedizin, wo eine Garagentür aus grauem Stahl geöffnet war. Ein Lastwagen rangierte rückwärts heran, um weitere Paletten mit Pressspanplatten abzuladen. In der Gerichtsmedizin war es heute ziemlich laut zugegangen, durch die Gänge, die Schall übertrugen wie ein Amphitheater, hallte ein ständiges Hämmern. Die Assistenten zimmerten unermüdlich schlichte Fichtensärge in Erwachsenen- und Kindergröße zusammen und konnten dennoch kaum mit der Nachfrage für Armenbegräbnisse auf dem Potter’s Field mithalten. Wie vieles andere auch eine Folge der Wirtschaftskrise.
    Scarpetta bedauerte bereits, dass sie den Cheeseburger mit Pommes gekauft hatte, den sie in einem Pappkarton mit sich herumtrug. Wie lange hatte er wohl im Warmhalteregal in der Mensa der New Yorker medizinischen Fakultät gestanden? Es war schon drei Uhr, also ziemlich spät für ein Mittagessen. Außerdem wusste Scarpetta um die geschmackliche Qualität dieser Mahlzeit. Doch ihr fehlte die Zeit, sich an einer Salatbar anzustellen, sich gesund zu ernähren oder zumindest etwas zu essen, worauf sie Lust hatte, denn sie hatte heute bereits fünfzehn Fälle bearbeitet. Selbstmorde, Unfälle, Tötungsdelikte und das Ableben mittelloser Personen, die ohne Beisein eines Arztes oder, noch trauriger, ohne Angehörige und völlig vereinsamt verstorben waren.
    Bereits um sechs war sie zur Arbeit gegangen, um rechtzeitig fertig zu werden. Deshalb hatte sie die ersten beiden Autopsien schon um neun erledigt und sich die schwierigste bis zum Schluss aufgespart – eine junge Frau mit sonderbaren Verletzungen, die nicht nur zeitaufwendig waren, sondern ihr einige Rätsel aufgaben. Über fünf Stunden lang musste Scarpetta sich mit Toni Dariens Leiche befassen, detailgetreue Zeichnungen anfertigen, sich ausführliche Notizen machen, Dutzende von Fotos schießen und das gesamte Gehirn für spätere Untersuchungen in einem Behälter mit Formalin konservieren. Sie hatte mehr Röhrchen mit Flüssigkeiten, Organ- und Gewebeproben sichergestellt als üblich und alles, was möglich war, aufbewahrt und dokumentiert, da ihr dieser Fall äußerst merkwürdig erschien. Und zwar nicht wegen der ungewöhnlichen Umstände, sondern wegen seiner Widersprüchlichkeiten.
    Die Art und Weise, wie die junge Frau zu Tode gekommen war, wirkte bedrückend alltäglich, weshalb sich eine langwierige Obduktion zur Klärung der grundlegenden Fragen erübrigt hatte. Sie war durch Gewalteinwirkung mit einem stumpfen Gegenstand getötet worden – ein einziger Schlag auf den Hinterkopf mit einem vermutlich bunt lackierten Objekt. Allerdings ergab sonst nichts einen Sinn. Beim Auffinden der Toten kurz vor Morgengrauen am Rand des Central Park, etwa zehn Meter entfernt vom Anfang der East Hundred-tenth Street, hatte man angenommen, sie sei am Vorabend im Regen joggen gegangen und dabei überfallen, vergewaltigt und ermordet worden. Der Täter hatte ihr die Jogginghose und den Slip bis zu den Knöcheln heruntergezogen und Vliespulli und Sport-BH über die Brüste geschoben. Wegen des Polatech-Schals, der mit einem Doppelknoten fest um ihren Hals geschlungen war, hatten die Polizisten und die Mitarbeiter der Gerichtsmedizin, die zuerst am Tatort eingetroffen waren, angenommen, dass der Mörder sie mit einem ihrer eigenen Kleidungsstücke erdrosselt hatte.
    Aber das war ein Irrtum. Bei der Untersuchung der Leiche in der Gerichtsmedizin hatte Scarpetta keinerlei Hinweise darauf finden können, dass es sich bei dem Schal um die Mordwaffe handelte oder dass er zumindest zum Tod des Opfers beigetragen hatte. Es gab weder Anzeichen für Ersticken noch körperliche Reaktionen wie Rötungen oder Blutergüsse, nur eine trockene Abschürfung am
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