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Unter goldenen Schwingen

Unter goldenen Schwingen

Titel: Unter goldenen Schwingen
Autoren: Natalie Luca
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Katastrophe, und Mama und ich alberten mit schokoladeverschmierten Löffeln herum …
    Nur ein paar Monate später hatte sie kaum noch die Kraft gehabt, sich in die Küche zu schleppen. Was ihr der Krebs an Energie gelassen hatte, hatte die Chemotherapie aus ihrem sterbenden Körper gesaugt.
    Ich legte das Handy zur Seite. Ich fühlte Zorn in mir brodeln und kämpfte die Tränen zurück. Warum musste mein verdammtes Leben nur so sein? Ich hasste es. Ich hasste, dass meine Mutter nie wieder zurückkommen würde. Ich hasste, dass es meinem Vater egal war. Ich hasste die Düsternis, die mich einschloss wie eine zähe Masse, in die kein Tageslicht drang.
    Jetzt gab es nur noch einen Ort, an den ich gehen konnte. Ich warf einen raschen Blick auf die tickende Wanduhr. Die Tore des Friedhofs schlossen um 18 Uhr. Mir blieben noch 25 Minuten.
    Kalter Wind peitschte mir den Regen ins Gesicht, während ich zur Bushaltestelle rannte. Der Himmel hatte sich weiter verdunkelt, schwarze Wolkenfetzen jagten über mich hinweg, und Wind und Regen mischten sich zu einer grauen Wand, durch die ich mich kämpfen musste.
    Es waren nicht nur die Kälte und der Zeitdruck, die mich antrieben. Es war das Gefühl, dass mir etwas im Nacken saß. Ich kannte dieses Gefühl, doch so schlimm wie an diesem Tag war es noch nie gewesen.
    Als ich bei der Haltestelle ankam, warteten dort bereits mehrere Leute zusammengedrängt im Wartehäuschen. Ich spähte nervös die Straße hinunter. Es war kein Bus in Sicht, und plötzlich ertönte eine Stimme aus einem Lautsprecher, der am Wartehäuschen montiert war.
    Die Frau von der Leitstelle sagte irgendetwas über schlechtes Wetter und die Behinderung des Fahrbetriebs, doch die Durchsage war kaum zu verstehen, so sehr rauschte die Verbindung.
    Ich fluchte leise und schaute auf die Uhr. Mir blieben weniger als zwanzig Minuten. Wenn der Bus sich verspätete, würde ich es nicht schaffen. Aber ich musste es schaffen … ich ertrug den Gedanken nicht, in die Wohnung zurückzukehren. Etwas trieb mich, hetzte mich, jagte mich, und es gab nur einen Ort, an dem ich sicher war.
    In dieser Sekunde traf ich meine Entscheidung. Den neuen Schlüssel in meiner Tasche, rannte ich los.
    Auf der Straße, direkt vor der Parkanlage, die mein Wohnhaus umgab, stand ein nagelneuer, hellblau glänzender VW, zwei Plätze hinter dem roten Mini Cooper, der seit Juni unbewegt auf dem Parkplatz stand.
    Ich hatte meine Führerscheinprüfung vor Monaten bestanden und war seither nicht mehr gefahren. Die Vorstellung, meine erste Autofahrt bei starkem Regen zu machen, war wenig verlockend. Doch ich hatte keine Wahl.
    Ich hielt die Luft an, drückte auf den neuen Schlüssel und der hellblaue VW entriegelte die Türen. Bevor ich einstieg, wandte ich mich noch einmal zu dem roten Mini um, und zögerte. Etwas drängte mich gewaltsam in meinen neuen Wagen, und ich spürte Widerstand in mir. Ich riss mich los und zog meinen Schlüsselbund aus der Tasche. Bebend öffnete ich die Fahrertür des Minis und lehnte mich hinein. Der vertraute Geruch des Wagens, jetzt kalt und abgestanden, schlug mir entgegen wie eine Mauer aus Erinnerungen. Ich zwang mich, meinen Blick starr auf die Windschutzscheibe gerichtet zu halten, und fädelte mit tauben Fingern einen Anhänger vom Rückspiegel. Ein kleiner goldener Flügel – der Glücksbringer meiner Mutter.
    Eine dumme Idee, jetzt Auto zu fahren , sagte eine Stimme in meinem Kopf. Du wirst dich umbringen.
    Doch als sich meine Finger um den kalten Anhänger schlossen, brachen Erinnerungen mit neuer Kraft über mich herein. Viele Stunden hatten meine Mutter und ich in diesem Wagen verbracht, geredet und gelacht … einmal so sehr, dass Mama ihren Kaffee verschüttet hatte, ich erinnerte mich an den Tag, als mein Blick auf die Flecken auf dem Sitz fiel.
    Es würde nie wieder so sein. Nie wieder. Ich fühlte mich elend und mein Magen drehte sich um. Ich kämpfte die Übelkeit nieder, stolperte aus dem Mini heraus und stieg in meinen neuen VW ein. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich es kaum schaffte, den Anhänger an meinem Rückspiegel zu befestigen.
    Dann startete ich den Motor.
    Der Regen wurde stärker und ich konnte nur hoffen, dass Ludwig Recht behielt. Wenn die Leute tatsächlich wie die Irren fuhren, würde ich nicht weiter auffallen.
    Ich kannte den Weg auswendig, was sehr hilfreich war, da ich vollkommen damit beschäftigt war, den Wagen unter Kontrolle zu bringen. Ich musste es vor 18 Uhr schaffen,
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