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Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen

Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen

Titel: Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
Autoren: Alisha Bionda
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und macht euch diese untertan!«
    Ischariot sah mit Genugtuung, wie jeder von ihnen einen tiefen Schluck aus dem Kelch nahm und somit neue Lebensenergie in ihre unsterblichen Körper brachte.
    Das tiefe As der Stürmerin des Passauer Doms St. Stephan schlug zwölf Mal – einmal für jeden von ihnen, für jeden Schluck Blut, der ihre Kehlen hinunterfloss – und läutete die magische Stunde ein. Als danach eine nahezu gespenstische Stille einkehrte, sahen sich die Zwölf wissend an. Die stumme Sprache ihrer Augen war wie ein Versprechen, wie ein Schwur, den sie sich gegenseitig gaben und der sie auf ewig miteinander verband. In einer fließend-synchronen Bewegung drehten sie sich zu Ischariot um und leisteten ihm nur mit Blicken ihren wortlosen Eid, wandten sich wie eine dunkle Prozession wieder von dem Oberen ab, breiteten ihre dunklen Schwingen aus, erhoben sich in den Nachthimmel – und verdunkelten den Mond.
    Die Welt verlor Licht und Wärme.
    * * *
    Eine der acht Glocken des Passauer Doms schlug dunkel und hoheitsvoll – es war die größte, Pummerin genannt. In dieser Nacht ertönte sie düster und bedrohlich. Eine der kleineren, die Stürmerin, tat es ihr eifrig mit heftigem Geläut nach. Und so erfüllten sie die beiden Glockenstuben des Südturms, als wollten sie nahendes Unheil ankündigen, denn ihr Klang zog sich wie eine grollende Tonwelle über den Nachthimmel.
    Die Misericordia versuchte, sie zu überstimmen, zusammen mit den restlichen fünf Glocken in der zweiten Glockenstube des Nordturms – auch sie waren wie durch Geisterhand zum Leben erweckt worden.
    Als wollten sie miteinander konkurrieren – oder auch nur gemeinsam die Mitternacht zu einer sakralen Stunde einläuten –, schwoll ihre unheimliche Musik an.
    Lichtschwerter des Mondes bahnten sich ihren Weg durch die dichten Wolkenformationen und fielen auf einen einsamen alten Mann, der mit gebeugtem Rücken an seinem Schreibtisch saß, das Gesicht hinter den gichtbeknoteten Händen verborgen, mit denen er die Augen bedeckte. Regungslos saß er da und lauschte dem unheimlichen Geläut, das in dieser Nacht fremd und unheilvoll erschien. Mochte es daran liegen, dass der Wind die Tonfolgen disharmonisch verzerrte, oder daran, dass der Greis von finsteren Visionen geplagt wurde, die ihn seit Wochen verfolgten. Somit war es um seine Nervenstärke nicht gut bestellt.
    Als sich das Timbre der Glocken im Dunst der Nacht verflüchtigte und wieder gespenstische Stille eintrat, löschte Kosam die letzte Kerze des sechsarmigen Flambeaus. Die anderen waren bereits heruntergebrannt. Der Greis, dem das Alter und die Schuld, die er in sich trug, den Rücken gebeugt hatten, erhob sich schwerfällig von seinem Schreibtisch, an dem die Zeit ebenso ihre Spuren hinterlassen hatte wie auf der runzeligen Haut des Alten. Mit schlurfenden Schritten ging er die ausgetretenen Stiegen hinab, die von seinem Arbeitsturm in den kleinen Ladenraum führten, wobei er sich schwer auf das schmiedeeiserne Geländer stützte.
    Am Fuß der Treppe verharrte der Greis einige Herzschläge lang, entließ seinen Lippen einen schmerzhaften Laut und schlich langsam weiter.
    Bevor er die arthritischen Knochen auf seiner Bettstätte ausstreckte, wollte er noch einmal nach dem Rechten sehen und sich vergewissern, dass die Ladentür auch verschlossen war.
    Kosam schlurfte schwerfällig durch den dunklen Raum und wäre beinahe über eine etwas hochstehende Bodendiele, in der sich sein rechter Schuh verfing, gestolpert. Er stieß einen leisen Fluch aus und einen weiteren, als er erneut – doch dieses Mal über seine eigenen Füße – strauchelte. Das Alter schenkte nicht nur Weisheit, es raubte auch Kraft und Substanz, und Kosam empfand das immer mehr als Bürde. Gerne hätte er dem Leben entsagt und seine Seele der ewigen Finsternis übereignet, aber seine Visionen zeigten ihm, dass sein Werk in diesem Leben noch nicht getan war und er noch ausharren musste.
    Das, was er beinahe jede Nacht »sah«, hätte bedrohlicher nicht sein können. Seine Gabe war auch ein Fluch. Zeitlebens hatte sie ihm Zukunftsbilder offenbart und auferlegt, die ihn selten heiter stimmten. Seine Visionen waren stets düster gewesen, als sei es ihm vorbestimmt, nur den Unrat der Welt weiszusagen. Auch dessen war er müde, es war wie ein Joch, das im Laufe des Weltgefüges immer schwerer auf ihm lastete und ihn niederdrückte – nicht nur seine Gestalt, sondern auch seine Seele.
    Kosam wusste, dass ihn besonders die
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