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Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen

Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen

Titel: Unter dunklen Schwingen - Unter dunklen Schwingen
Autoren: Alisha Bionda
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jungen Leute, die regelmäßig und zahlreich sein Antiquariat aufsuchten, weil er stets mit bibliophilen Besonderheiten aufwarten konnte, den »Wahrsager« nannten. Zu Anfang beäugten sie ihn stets sorgsam und auch mit einer gewissen Scheu behaftet, doch dann überwog rasch und zusehends die Neugier, um herauszufinden, was an den Gerüchten, die sich über ihn geduldig hielten, der Wahrheit entsprach.
    Lächelnd fiel ihm bei diesem Gedanken eine spezielle Gruppe junger Männer ein, die regelmäßig zu ihm fanden. In einem Zeitalter, in dem nur visuelle Unterhaltung zu zählen schien und das gedruckte Wort mehr und mehr verdrängte, erfüllte es sein Herz mit Wärme, dass es immer noch Menschen gab, für die Bücher zählten – und die Werte, die sie vermittelten.
    Ein Jüngling hob sich in der Gruppe besonders hervor. Einer, von dem Kosam bekannt war, dass er ebenfalls Texte verfasste, und der an seinem Erstlingsroman schrieb – Israel.
    Es ruhte ein besonderer Ernst und eine erstaunliche Weisheit in dem jungen Schriftsteller. Beinahe autistisch lebte er in seiner Welt, steter Außenseiter und dennoch ruhender Pol in der Gruppe junger Studenten, die ihn begleiteten und an seinen Lippen klebten, sobald er sich dazu überreden ließ, einen seiner Texte vorzulesen. Dann ging von ihm ein inneres Leuchten aus, das alles und jeden um ihn herum mit positiver Energie und stimulierender Lebensfreude erfüllte. Auch wenn seine Wortschöpfungen eine Melancholie ausstrahlten, die eine tiefe Traurigkeit erkennen ließ, so erreichten sie seine Zuhörer, deren Zahl immer mehr wuchs. Bald war das kleine Antiquariat ein regelmäßiger Treffpunkt und oftmals zum Bersten gefüllt.
    Einen solchen Ansturm hatte Kosam seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Alle kamen aber nur, um ihm zu lauschen: Israel, den sie hinter vorgehaltener Hand den »Propheten« nannten, denn seine Texte waren zwar nicht religiös, aber dennoch und trotz ihrer Düsternis von hoher Ethik und Moral geprägt. Durch ihre Wertigkeiten fühlten sich die Zuhörer seltsam bereichert, wenn sie von einer Lesung heimkehrten. Meist widerwillig, als lösten sie sich von dem einzig Guten, das ihr Leben wertvoll machte.
    * * *
    Seit Israel in Kosams Leben getreten war, verspürte der Alte wieder einen Hoffnungsfunken in sich flackern. Vielleicht ließ sich die Vorhersehung doch noch abwenden, das dunkle Netz zerreißen, das sich ihm immer wieder gezeigt und das er über die Menschen gelegt hatte. Mit jedem Lächeln, das er aufsetzte, mit jedem verräterischen Kuss, den er schenkte, säte er hinter der Maske des Gutmenschen den gesellschaftlichen Zerfall.
    Die Niedertracht trug einen Namen: Ischariot – und sein Verrat an der Menschheit war beinahe vollendet.
    Doch nun schien sich das Blatt zu wenden.
    Durch Israel.
    Die erste Begegnung mit dem jungen Mann, der sich über seinen Familiennamen ebenso ausschwieg wie über seine Herkunft, und dessen Vorname so fremd anmutete in der Zeit, in der sie lebten, war immer noch lebendig in Kosam verankert.
    Der ernste Student mit dem dichten schwarzen Haar, Backenbart und Augen, die wie Kohlen glänzten und zu dem blassen Gesicht einen harten Kontrast bildeten, hatte eines Tages das Antiquariat betreten. Wortlos war er – lediglich mit einem stummen Kopfnicken als Gruß – an die Regale getreten, wo er mit fiebrigem Blick auf eines der darauf liegenden Werke starrte.
    Kosam hatte den seltsamen Besucher stumm gemustert und augenblicklich die Besonderheit in ihm erkannt. Mehr noch; es war ihm, als begegne er einem alten Vertrauten.
    Dabei wirkte Israel abweisend, als umgäbe ihn eine gläserne Wand, doch sobald er mit seinen feingliedrigen Fingern über einen der alten Folianten strich, vollzog sich mit ihm eine Wandlung. Eine, die Kosam beinahe das Wasser in die Augen trieb. Während er sich damals ob seiner Reaktion einen alten Narren schalt, hatte sich der Jüngling zu ihm herumgedreht, ihm fest in die Augen geblickt und mit leiser, aber fester Stimme gesagt: »Mein Name ist Israel, und es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen!«
    Die Art, in der er diesen Satz aussprach, klang wie ein Versprechen, wie der Auftakt eines Neubeginns.
    * * *
    Ischariots dunkles Herz klopfte stolz und dünkelhaft in seiner Brust. Der Bericht des Bruders Hiob, der für ihn die Geschicke des Bunds des schwarzen Blutes lenkte, stimmte ihn euphorisch. Näherte er sich doch endlich seinem heimtückischen Ziel, das er seit Menschengedenken mit
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