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Unter dem Teebaum

Unter dem Teebaum

Titel: Unter dem Teebaum
Autoren: Ines Thorn
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fremd. Die Eingeborenen betrachteten ihn mit demselben Erstaunen, das er ihnen entgegenbrachte. Ja, sie waren nicht mehr nackt, sie trugen Kleidung. Doch ihre Kleidung war wahllos zusammengewürfelt. Und alle gingen barfuß.
    Ralph war am Auto stehen geblieben und beobachtete Jonah. Er wusste, dass der Junge sich zwischen zwei Welten befand, und wollte ihm ein wenig Zeit lassen.
    Nach einer Stunde aber sah er auf die Uhr. Sie hatten wirklich nicht viel Zeit. Jede Minute, die Amber im Gefängnis verbrachte, war eine Minute zu viel.
    Schließlich ging Ralph in ein Office der Eingeborenen. Hinter einem Tisch saß eine junge Schwarze, die ihr Haar mit bunten Spangen zu bändigen versuchte.
    »Sprechen Sie Englisch?«, fragte er höflich.
    »Selbstverständlich«, erwiderte die Frau. »Ich lebe schließlich in einem Land, dessen Oberhaupt die Queen von England ist.«
    Ralph lächelte entschuldigend und trat einen Schritt zur Seite, weil ein älteres Ehepaar, das T-Shirts mit dem Aufdruck »Sydney« trug, an den Nachbarschalter drängelte.
    »Du verstehst mich?«, fragte der weiße Tourist.
    Der ältere Aborigine nickte.
    »Ich suche einen Bumerang für meine Enkel. Du verstehst? Enkel, das sind die Kinder meiner Tochter. Bumerang – zum Werfen.« Er machte eine Bewegung, als schleuderte er einen Stein.
    »B … U … M … E … R … A … N … G«, brüllte er dem Mann hinter dem Schreibtisch entgegen, als wäre dieser taub.
    Ralph sah die junge Frau an, die er eben angesprochen hatte. Die junge Frau lächelte ihm zu.
    »Selbstverständlich verstehe ich Sie, mein Herr«, erwiderte der Aborigine am Nebenschalter mit ausgesuchter Höflichkeit. »Sie finden Bumerangs in allen Ausführungen im zweiten Steinhaus gleich neben dem Office. Ich bin sicher, die Kinder Ihrer Tochter werden daran ihre Freude haben.«
    Der Weiße sah ihn eine Sekunde verwirrt an. »Bumerang?«, wiederholte er töricht. »Bumerang zum Werfen?«
    Der Aborigine nickte freundlich und zeigte ihm den Weg.
    »So ist es oft«, sagte die Eingeborene mit den bunten Haarspangen. »Die meisten Leute meinen, wir könnten die Sprache unseres Landes nicht. Sie sprechen mit uns wie mit geistig Behinderten.«
    Ralph nickte. »Und ich gehöre auch dazu. Bitte verzeihen Sie mir.«
    »Schon gut. Sie sind bestimmt nicht zum Uluru gekommen, um meine Englischkenntnisse zu überprüfen. Was kann ich für Sie tun?«
    »Ich bin auf der Suche nach dem Clan der Damalas. Man sagte mir, sie hätten vor über zwanzig Jahren ihr angestammtes Gebiet verlassen und lebten seither hier.«
    »Das stimmt. Einige der Jüngeren sind nach Alice Springs gezogen. Nur die Alten sind noch hier. Die jungen Leute wollen leben wie die weißen jungen Leute. Sie wollen in eine Disko gehen, wollen fernsehen und Musik hören. Sie wollen arbeiten und sich moderne Kleidung kaufen, einen Motorroller oder gar ein Auto.«
    »Ist das nicht normal?«, fragte Ralph.
    »Normal schon. Doch die meisten schaffen es nicht. Aborigines bekommen die miesesten Jobs, von denen sie kaum leben können. Nach ein paar Jahren wissen sie, dass sie sich nie ein Auto werden leisten können. Viele verlieren ihre Jobs und beginnen mit dem Trinken. Mein Volk ist noch nicht so weit wie die Weißen.«
    »Man kann es auch anders sehen«, erwiderte Ralph. »Vielleicht ist mein Volk noch nicht so weise wie die Aborigines. Ich glaube, wir haben uns schon viel weiter von uns selbst entfernt als die Eingeborenen.«
    Er hätte sich gern weiter mit der jungen Frau unterhalten, doch die Zeit drängte. »Wo finde ich jemanden von den Dalamas?«
    Die junge Frau erhob sich. »Ich bringe Sie hin. Sie leben am Rand der Siedlung. Es ist schwer zu finden.«
    Vor der Tür trafen sie auf Jonah und gingen gemeinsam zu einer Ansammlung von Steinhäusern, zwischen denen ein großer Feuerplatz lag.
    Die junge Frau klopfte an eine Tür, rief ein paar Worte in einer Sprache, die Jonah und Ralph nicht verstanden. Dann öffnete sich die Tür, und ein Mann erschien, dessen Gesicht so faltig und verwittert war wie der Uluru selbst.
    Der Mann starrte auf Jonah, als sähe er einen Geist vor sich. Ja, er wich sogar einen Schritt zurück. Dann schüttelte er den Kopf und fragte: »Was wollen Sie von mir?«
    Jonah erklärte in wenigen Worten, warum sie zum Sitz der Ahnen gekommen waren. Der alte Mann nickte, dann bat er die Besucher auf eine Bank, die sich um einen Baum zog.
    »Ich bin Orynanga, und ich begrüße dich, Jonah, Sohn des Jonah, in deiner
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