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Unter dem Räubermond

Unter dem Räubermond

Titel: Unter dem Räubermond
Autoren: Jewgeni Lukin
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Ausgucken waren aufmerksam und wussten, wohin sie schauen sollten, sodass sie die Staubfahne des Samum unmöglich übersehen konnten. Die Meuterer hatten durchweg Pech: Seit dem Morgen wehte ein steter und recht starker Nordwestwind, und als der Karawanenführer befahl, ihnen entgegenzufahren, wurde die Lage des Samum hoffnungslos.
    Aitscha hätte freilich auch ahnen können, dass der Ehrwürdige ihn nicht anzugreifen gedachte, aber wenn einen zwei Kriegsschiffe in die Zange nehmen, verliert man leicht den Kopf. Zudem gaben die Räuber beim Anblick der Karawane sogleich ihrem neuen Anführer die Schuld an allem, als hätten nicht sie selbst ihn zur Meuterei angestachelt. Ein neues Gemetzel an Bord des Samum unterblieb nur, weil der ehrwürdige Chaïlsa gar zu schnell näher kam.
    Er selbst war zunächst auch verwirrt, als der Samum einen schwarzen Wimpel aufzog und um Gnade bat. Alles klärte sich erst, als der blutig geschlagene Aitscha auf den Salamander gebracht wurde und Chaïlsa erzählte, was geschehen war. Den Ehrwürdigen traf angesichts dieser Neuigkeiten fast der Schlag. Man kann nicht sagen, dass er von der Aussicht auf eine Begegnung mit dem frischgebackenen Karawanenführer Ar-Scharlachi begeistert war, doch die Befehle des Herrschers wurden bekanntlich nicht erörtert … Chaïlsa war ein tapferer Mann und ein alter Krieger, doch er brauchte nur an den Zorn Ulqars zu denken, und schon hörte die Tapferkeit auf.
    »Was heißt ›in der Wüste zurückgelassen‹?«, krächzte er und packte Aitscha bei dem zerknitterten Stoff auf der Brust. Der wandte nur entsetzt das Gesicht ab, seine zerschlagenen Lippen zuckten. »Meuterer! Zweifache Meuterer! Wo? Wo habt ihr ihn gelassen?«
    Aitscha sagte es. Der Ehrwürdige stürzte zur Karte, schaute darauf und stöhnte. Scharlach und seine Frau (die Chaïlsa übrigens nicht im Mindesten interessierte) waren schon seit einem Tag tot. Die Wüste tötet schnell. Noch dazu mittags.
    »Das Wasser …«, krächzte er und hob die vorquellenden, von blutigen Äderchen durchzogenen Augen. »Das Wasser habt ihr?«
    »Ja, Ehrwürdiger«, antwortete Aitscha hastig und undeutlich.
    Chaïlsa überlegte. Nichts hätte der Karawanenführer lieber getan als die nächste aufrichtige Dummheit, nämlich die Meuterer (die zweifachen Meuterer!) auf der Stelle hinzurichten und mit dem Wasser nach Harwa zu fahren. Doch das wäre seine letzte aufrichtige Dummheit gewesen. Zwei Tage zuvor hatte er eine Nachricht von seinem Neffen, dem ehrwürdigen Alras erhalten, worin dieser unverblümt mitteilte, wie ernst die Lage war, und eingedenk des Charakters seines Onkels diesen inständig bat, Scharlach heil und unversehrt nach Harwa zu bringen.
    Nach Süden fahren und die beiden Leichen suchen? Wer weiß, ob man sie finden könnte. In der Wüste Ausgesetzte versuchen immer fortzukommen und sich zu retten, selbst wenn sie wissen, wie aussichtslos der Versuch ist … Zudem wäre die Leiche kaum ein vollwertiger Ersatz für den lebendigen Räuber.
    Mit einer Geste des Abscheus befahl der Ehrwürdige, den Schurken abzuführen, und rollte abermals die Nachricht von Alras auf. Ja, es sah ganz danach aus, dass der liebe Neffe selbst sehr beunruhigt war … Und was sollte beispielsweise diese Andeutung? »Wir sind so unbedeutend vor dem Antlitz der Unerforschlichen und Unsterblichen, dass wir uns kaum voneinander unterscheiden.« Mit anderen Worten, der Herrscher kann sich Gesichter schlecht merken. Und Ulqar hatte (schrieb der Neffe) Scharlach ein einziges Mal gesehen, und der Räuber hatte dabei den Schleier nicht abgelegt …
    Der ehrwürdige Chaïlsa klatschte in die Hände, und die Tür wurde geöffnet. »Bringt diesen … den aus dem Laderaum her«, befahl der Karawanenführer unzufrieden.
    Alsbald wurde, mit der leichten Stahlkette klirrend, der Gefangene hereingeführt. Seine Miene war gewohnt finster. Ohne den Ehrwürdigen auch nur eines Blickes zu würdigen, schaute er irgendwohin in die Ecke. Er war gekränkt.
    Mit einer Handbewegung entließ Chaïlsa die Wache. Er stand auf, ging furchtlos näher, musterte den Mann eindringlich.
    »Ist dir dein Leben lieb, Ehrenwertester?«, erkundigte er sich schließlich leise.
    Der Räuber blinzelte und schaute den Karawanenführer an. Wieder wandte er gekränkt den Blick ab, dann nickte er kaum merklich.
    »Sehr gut«, fuhr Chaïlsa fort, immer noch mit leiser, angespannter Stimme. »Dann hör mir aufmerksam zu. Wir fahren jetzt nach Harwa. Dort wirst du
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