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Unter dem Räubermond

Unter dem Räubermond

Titel: Unter dem Räubermond
Autoren: Jewgeni Lukin
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sich um.
    »Du solltest lieber bleiben.«
    »Was? Mache ich auch neugierige Augen?«
    Sie musste lächeln. »Na schön, komm.«
    Im Sand stecken bleibend, der selbst durch das dichte Saffianleder der Kurzstiefel hindurch brannte, gingen sie über die Dünen zu dem trockenen, krummen Baum. Unmittelbar an der Wurzel kam ein weißer Lappen hervor, der mit seinem Rand am ersten, abgebrochenen Ast festgehakt war. Aliyat hockte sich hin und grub, sich die Hände verbrennend, ein kleines Bündel aus. Sie öffnete es. Ar-Scharlachi hatte erwartet, darin eine Pergamentrolle zu erblicken, und sich sogar ein wenig gewundert, weil er sich erinnerte, dass Aliyat mit dem Lesen auf Kriegsfuß stand. Doch was sie aus dem Bündel holte, erinnerte ihn am ehesten an Fanggarn für Kleingetier und außerdem vielleicht an jene Schnüre mit Knoten, die die »Bemalten« benutzten. Irgendwelche zusammengebundenen Stöckchen, Knöchelchen, Steinchen …
    Sie legte alles aus, rückte es zurecht, studierte es. Ar-Scharlachi hockte sich neben sie, betrachtete verblüfft das rätselhafte Geflecht.
    »N-na ja …«, ließ sich Aliyat schließlich vernehmen, die Lider gesenkt und sofort einer Wahrsagerin ähnlich. »In Ar-Nujers Schatten sind alle niedergemetzelt worden, aber das war vor der Schlacht … Es sind überall Truppen stationiert worden, aber … Nein. Genau. Von Hinrichtungen steht hier überhaupt nichts. Ulqar hält Wort …«
    Die letzten Worte sprach Aliyat mit sichtlichem Unbehagen. Wie alle anderen, zog es auch sie nicht nach Harwa, doch Ar-Scharlachi zu belügen wagte sie nicht. Vielleicht glaubte sie, er werde die Zeichen der Räubernachrichten leicht entziffern – immerhin war er gelehrt …
    Dieser aber, anstatt sich zu freuen, zog besorgt die Brauen zusammen. »Wenn wir nur Chaïlsa nicht verfehlen …«, murmelte er, während er aufstand. »Schön, vergrab es, und zurück.«
    »Warte«, sagte Aliyat und klaubte aus den Falten ihres Kittels ein weiteres solches Geflecht, nur kleiner. »Wir haben auch etwas mitzuteilen …«
    Die Bastelarbeit hatte sie zweifellos selbst in Stunden der Muße angefertigt.
    »Doch hoffentlich nichts vom Meer?«, fragte Ar-Scharlachi beunruhigt.
    »Vom Meer nichts.« Sie fasste beide Arbeiten zusammen. »Nur davon, dass die Hämmer verbrannt sind und du lebst.«
    »Sehr interessant«, sagte er, ging wieder in die Hocke und betrachtete eingehend das Wirrwarr aus Fäden, Stöckchen und dem Rest. »Und wo bin ich hier?«
    »Du? Da.« Sie zeigte auf einen roten Stofffetzen, schüttelte das Tuch und begann, die »Nachricht« einzuwickeln.
    Sie kam nicht mehr dazu. In der Ferne ertönte ein kräftiges dumpfes Geräusch, das beiden wohlbekannt war: Ein Segel schlug und blähte sich im Wind. Das Leinenbündel fiel auf den Sand, Aliyat und Ar-Scharlachi sprangen auf, drehten sich um … Leicht auf das linke Rad geneigt, fuhr der Samum unter vollen Segeln fort. Nach Norden.
    »Die Schakale!«, kreischte Aliyat wütend auf, wollte schon dem Schiff hinterherrennen, fing sich dann aber und blieb stehen. Zu Fuß war ein Schiff nicht einzuholen. Sie wandte Ar-Scharlachi das verzerrte Gesicht zu, hob die kleinen, fest geballten Fäuste: »Ich hab dir doch gesagt: Bleib!«
    Ar-Scharlachi stand reglos da und schaute wie gebannt dem Samum hinterher. Dort entschwand das Leben. Aliyat schrie etwas, aber er hörte sie nicht. Das rosa, in den Vertiefungen noch golden verzierte, vom Sandsturm abgeschliffene Heck schaukelte über die Dünen und schien ihnen Grimassen zu schneiden, wenn es in den aufsteigenden Strömen heißer Luft zitterte. Der Wind verwehte über den Dünen durchsichtige Fahnen von Staub, den die Räder aufgewühlt hatten. Dann schien es Ar-Scharlachi, dass am linken Bord ein Wirrwarr entstand, jemand stürzte über die Reling auf den Sand, stand aber auch dann nicht auf, als die blanke Sichel über seinem Kopf vorübergegangen war. Anscheinend war dort auf dem Samum ein erbittertes Handgemenge im Gang.
    Das Gehör stellte sich wieder ein.
    »Feiglinge! Feiglinge!«, schrie Aliyat ihnen nach. »Ihr bleibt ja doch nicht am Leben! Hört ihr!«
    Natürlich hörten sie es nicht. Die Mannschaft, die keine offene Meuterei gewagt hatte, ließ das Schiff dahinjagen und riskierte nicht einmal einen Blick zurück auf den schrecklichen Scharlach und die rasende Aliyat.
    Ar-Scharlachi zwang sich geradezu, den ersten Schritt zu tun, und ging schwerfällig dorthin, wo der über Bord Gesprungene noch immer lag, ohne
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