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Unter dem Räubermond

Unter dem Räubermond

Titel: Unter dem Räubermond
Autoren: Jewgeni Lukin
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den Kopf zu heben.
    Und er konnte den Kopf auch nicht heben, der Kommandeur der Spiegelkämpfer Iliysa, aus dem einfachen Grund, dass er mit durchgeschnittener Kehle dalag. Anscheinend hatten sie ihn überrumpelt – die Wunde war die einzige. Er war also nicht gesprungen, sondern über Bord geworfen worden. Und nicht nur er. Zwanzig Schritte von Iliysa entfernt lag mit dem Gesicht auf dem Sand Ard-Gew. Er hatte natürlich bis zuletzt gekämpft: Der vielfach aufgeschlitzte Kittel war voller Blutflecke.
    Ar-Scharlachi zuckte zurück, richtete sich auf und blickte verwirrt um sich.
    »Suchst du Aitscha?«, hörte er hinter sich Aliyat böse lachen. »Den wirst du nicht finden …«
    Beide schauten wieder dem sich entfernenden Samum hinterher. Er war schon weit weg. Am wogenden Horizont zitterten und verschwammen die Aufbauten des rosa-goldenen Hecks … Dann lugte zwischen Verzweiflung und Hass bitter lächelnd der Gedanke hervor, dass die ehemaligen Matrosen und Schiffsläufer eine Menge von ihrem Anführer gelernt hatten. Es kommt darauf an, rechtzeitig die Regeln zu verletzen. Und fertig. In der Tat, wozu eine Meuterei gegen Scharlach anzetteln, wenn man ohne besondere Mühe und Gefahr einfach das Schiff wegfahren kann? Aliyat hatte recht: Er hätte nicht von Bord des Samum gehen dürfen. Aber was nützte jetzt die Reue!
    Schlecht … gar zu schlecht … Ulqar würde das Meerwasser nicht erhalten und sich am Palmenweg rächen … Und es war nicht mehr zu ändern.
    In finsterem Schweigen warfen sie Sand, der die Hände verbrannte, über die beiden Leichen, dann trotteten sie, ohne sich umzuschauen, zurück. So seltsam es sein mochte, Angst vor dem unausweichlichen Tod verspürte Ar-Scharlachi nicht. Vielleicht war ihm noch nicht alles vollends bewusst geworden. Außerdem sah er, wenn er zu Aliyat hinüberschielte, dass sie über irgendetwas lächelte – grausam und triumphierend. Und sicherlich nicht von ungefähr. Also gab es wohl noch eine Hoffnung, von der er einfach nichts wusste. Etwa noch ein Räuberversteck – mit Vorräten an Wasser und Proviant … Doch direkt danach zu fragen, das wagte Ar-Scharlachi dann doch nicht.
    Als sie den vertrockneten Stamm erreicht hatte, wickelte Aliyat das Leinen wieder auf. Nachdem sie einen schmalen Streifen vom Rand abgerissen hatte, brach sie ein paar Zweige ab und machte sich daran, das Geflecht zu ergänzen. Dann wickelte sie das Bündel sorgfältig ein und vergrub es im Sand, das herausragende Ende wieder an denselben Astvorsprung gehakt. Sie richtete sich auf, kniff die Augen zusammen und warf einen vernichtenden Blick auf die am Horizont schwankende Staubfahne – alles, was vom Samum geblieben war.
    »So«, sagte sie unerbittlich. »Du kannst davon ausgehen, dass sie jetzt nirgends mehr hinkönnen. Sobald sich herumspricht, was sie mit uns gemacht haben, sind sie erledigt. Unsere Leute verzeihen so etwas nicht …«
    »Chaïlsa fängt sie sowieso vorher ab«, entgegnete Ar-Scharlachi missmutig. Sein eigenes Schicksal interessierte ihn weitaus mehr als das der Samum -Besatzung. »Du siehst doch, sie fahren zum Trunkenen Schatten! Dem Ehrwürdigen genau in die Arme …«
    Aliyat wandte sich abrupt zu ihm um. Ihre dunklen Augen blitzten freudig auf. »Ulqar!«, stieß sie hervor. »Sprich mit Ulqar. Soll er es auch wissen …«
    »Das Maschinchen ist im Schiff geblieben …«, erinnerte er sie. Aliyat verschlug es für einen Moment die Sprache, dann bewegte sie schließlich mit den Lippen den Schleier – offensichtlich fluchte sie im Stillen – und wandte sich ab.
    »Er würde es sowieso nicht rechtzeitig bis zu uns schaffen …«, sagte Ar-Scharlachi entschuldigend.
    Aliyat warf ihm einen rasenden Blick über die Schulter hinweg zu, und Ar-Scharlachi wurde es kalt ums Herz. Er hatte endlich erfasst, dass ihr schadenfrohes Lächeln nur Rachegedanken entsprungen war.
    »Und was wird mit uns?«, fragte er, plötzlich heiser geworden, und als er keine Antwort erhielt, schaute er sich um, wehmütig blinzelnd. Ringsum erstreckten sich Sande, weiß wie Knochen.
    Ar-Scharlachi hatte recht. Indem er geradezu Kurs auf Ar-Kahirabas Schatten nahm, lief der Samum am Morgen darauf selbst der ihn erwartenden Karawane des ehrwürdigen Chaïlsa in die Fänge. Wenn die Schiffe Harwas in Bewegung gewesen wären, hätte Aitscha natürlich unweigerlich den Staub bemerkt und sich vorgesehen. Doch beide Fahrzeuge des Ehrwürdigen standen schon den zweiten Tag am Ort, die Leute in den
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