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Unter aller Sau

Unter aller Sau

Titel: Unter aller Sau
Autoren: Christian Limmer
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personifizierte Widerwille in Uniform.
    Nach zehn Minuten hatten sie den Wald erreicht, und Richie blieb stehen.
    »Da willst du jetzt aber nicht wirklich reingehen, oder?«
    Erwin drehte sich zu Richie um.
    »Logisch. Wieso nicht?«
    »Weil, wenn wir dem Bach noch weiter nachgehen, sind wir übermorgen in Zwiesel und Ende der Woche in der Tschechei.«
    Erwin schaute Richie lange an, dann wandte er sich dem Wald zu, starrte auf die Bäume, drehte sich schließlich wieder zu Richie um.
    »Wir gehen bis zur Grenze von Grünharding und kehren dort um. Das heißt, wir sind maximal noch eine Stunde unterwegs.«
    Richie seufzte. »Wenn’s sein muss.«
    Die beiden setzten sich wieder in Bewegung.
    »Eigentlich hätte das der Schorsch machen können. Dem tät’s echt nicht schaden, wenn er ein bisschen rauskommt«, brummte Richie.
    »Mei, er ist halt der geborene Schreibtischhengst. Wir nicht. Das passt schon.«
    Erwin und Richie verschwanden zwischen den Bäumen. Ein Specht klopfte, ein Traktor dröhnte, ein Hund bellte, und dreiundfünfzig Minuten später standen die beiden Streifenbeamten vor Schneewittchen und kämpften mit dem Brechreiz.
    Erwin verlor den Kampf, er hastete Richtung Bach und spendete sein Frühstück der Natur. Richie spürte seinen Magen zwar rumoren, aber da er nie frühstückte, sondern nur einen Joint rauchte und ein Weißbier trank, gelang es ihm, seinen Mageninhalt bei sich zu behalten. Seine Augen klebten an der Leiche, während seine Hand sich langsam hob und die Finger in die Brusttasche wanderten, wo sein Handy wohnte. Er zog es heraus, und ohne dass sich seine Pupillen einen Millimeter bewegten, drückte er eine Kurzwahltaste, hielt das Telefon ans Ohr und lauschte dem Freizeichen. Wahrscheinlich hörte er den Ton gar nicht, denn als sich Gisela am anderen Ende meldete, dauerte es glatte zwanzig Sekunden, bis ihre Stimme in seine Gehirnwindungen vordrang.
    »… Richie, jetzt sag einmal, was ist denn los? Hörst du mich überhaupt?«
    »Gisela.«
    Das war alles, was sich aus seinem Mund quälte. Und es klang so rauh, dass man Tannenzapfen damit hätte abschmirgeln können.
    »Was?«, drang es aus dem Handy.
    »Gisela.«
    Richie war noch immer zu keiner Bewegung fähig. Diese junge Frau, deren linkes Auge mit Maden gefüllt war, war der erste gewaltsam umgekommene Mensch, den er in seinen bislang dreiunddreißig Lebensjahren gesehen hatte. Eine Erfahrung, die seine Seelenruhe zutiefst erschütterte.
    »Wo bist du denn?«
    »Im Wald.«
    Erwin kam hinter einem Baum hervor, näherte sich kreidebleich seinem Kollegen. Er bemühte sich, die Leiche nicht anzuschauen, während er Richie das Handy aus der Hand nahm. An dessen Körperhaltung änderte sich nichts.
    »Wir sind am Mittererbach, da wo’s nach Grünharding geht. Da liegt …«, krächzte Erwin, würgte, zwang sich, nicht zu Schneewittchen zu blicken, »… da liegt eine Frau. Sie, die ist …« Der Rest seines Frühstücks überholte den Satz.
    Gisela, die auf den Seitenstreifen gefahren war, hörte Erwin über ihre Freisprecheinrichtung kotzen. Die Übertragung war so gut, dass man glaubte, er säße im Wagen. Das Geräusch erhitzte Giselas Innereien schlagartig, sie spürte, wie ihr ebenfalls unwohl wurde. Jakob hingegen starrte zum Beifahrerfenster hinaus und schien nichts davon wahrzunehmen.
    »Erwin?«
    Sie hörte Keuchen. Ein herzhaftes Fluchen.
    »Wann bist du da?«, tropfte Erwins Stimme ins Auto.
    »Ich bring den Papa noch schnell heim, dann komm ich zu euch.«
    »Wie lang …?«
    Gisela ahnte das Herannahen eines erneuten Schwächeanfalls Erwins.
    »So schnell’s geht. Und schaut, dass ihr den Tatort nicht versaut.«
    Aus den Lautsprechern gedämpfte Schritte, als würde jemand über Waldboden laufen, um sich in sicherer Entfernung der Leiche noch einmal zu übergeben. Gisela schaltete das Handy ab, legte den ersten Gang ein, und der Smart pfiff zurück auf die Fahrbahn, um Giselas Mitarbeitern zu Hilfe zu eilen.
     
    Erwin kniete auf dem Waldboden, sein Gesicht schweißnass und weiß. Er atmete schwer, sammelte alle Kraft, um sich wieder auf die Beine zu zwingen. Richie stand immer noch bei Schneewittchen, seinen Arm angewinkelt, ein imaginäres Handy am Ohr. Immerhin bewegten sich jetzt seine Augäpfel. Dann ein Blinzeln, es war fast, als würde er aus einem langen Schlaf erwachen. Er steckte das Phantomhandy zurück in die Brusttasche seiner Uniformjacke. Dann legte er den Kopf in den Nacken, saugte die sich wiegenden
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