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Unter aller Sau

Unter aller Sau

Titel: Unter aller Sau
Autoren: Christian Limmer
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Mittelpunkt ihres Interesses. Das war keine Heuchelei, vielmehr entsprach diese Empathie ihrer Persönlichkeit. In Giselas Nähe fühlten sich die Menschen gut aufgehoben.
    Auf den anderen Chromstühlen im Wartezimmer der neurologischen Praxis in Straubing hockten ein älteres Ehepaar, ein junger Mann mit Kopfverband, der eine Autozeitschrift durchblätterte, und eine Mutter mit ihrem dreijährigen Buben. Der Kleine hielt einen zerzausten Stoffelefanten fest umklammert, während seine Mutter ihm ein Lied ins Ohr summte. Er fixierte Giselas große Nase, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Er war so fasziniert von dem Zinken, dass er keinen Mucks von sich gab. Die Mutter schrieb seine Ruhe ihrem Lied und dem leisen Wasserplätschern zu, das, untermalt von Harfenmusik, aus unsichtbaren Lautsprechern rieselte.
    Die Sprechstundenhilfe, eine magersüchtige Schwarzhaarige mit ungesunden Augenringen, steckte ihren Kopf ins Wartezimmer.
    »Frau Wegmeyer, bitte.«
    Gisela erhob sich.
    »Wiederschaun«, verabschiedete sie sich in die Runde.
    »Wiederschaun«, ertönte es unisono. Der Kleine starrte Gisela mit großen Augen nach, als sie das Wartezimmer verließ und der Magersüchtigen in ein kleines Besprechungszimmer folgte.
    »Der Herr Doktor und Ihr Vater kommen gleich«, meinte die Magersüchtige und ließ sie alleine. Gisela setzte sich in einen der beiden Stühle vor dem Schreibtisch. Hier gab es keine Musik, hier summte nur die Sauerstoffanlage eines Aquariums, das fast eine gesamte Wandbreite einnahm. Auf der gegenüberliegenden Seite ein Regal voller medizinischer Enzyklopädien, den freien Platz daneben nahm eine Skulptur aus Blech ein, die man für einen Menschen halten konnte, der die Hände dem Himmel entgegenstreckte. Hinter dem Schreibtisch war eine breite Terrassentür, die von einem orangefarbenen Vorhang verdeckt war. Das durch den Vorhang hereinfallende Licht tauchte das Zimmer in eine warme Farbe, die dem nüchternen Raum fast etwas Gemütliches verlieh.
    Wäre da nicht der unbequeme Schwingstuhl. Giselas Körper verspannte sich, weil sie das Gefühl hatte, dass sie bei der leisesten Bewegung von der schiefen Sitzfläche rutschen würde.
    Vielleicht war sie aber auch angespannt, weil sie Angst vor dem hatte, was ihr der Arzt sagen würde. Gisela rieb ihre Handflächen trocken, versuchte gleichmäßig zu atmen und ihren wippenden rechten Fuß unter Kontrolle zu kriegen.
    Die Tür schwang auf. Gisela zuckte leicht zusammen, stemmte sich sofort hoch. Doktor Rothaler und Giselas Vater kamen herein.
    »Grüß Gott, Frau Wegmeyer.«
    »Grüß Gott, Herr Doktor.«
    Gisela schob ihrem Vater den zweiten Stuhl hin und stützte den Einundachtzigjährigen, während er sich darauf niederließ. Doktor Rothaler, Mitte fünfzig, aber mit der Dynamik eines Studenten, warf sich in seinen Ledersessel hinter dem Schreibtisch. Er sah unverschämt gut aus, braungebrannt, gerade weiße Zähne und kein einziges graues Haar. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, fragte sich Gisela, ob er sich von einem Schönheitschirurgen behandeln ließ. Üblicherweise wusste die Natur zu verhindern, dass jemand in ihrem Alter so frisch und gut erhalten blieb.
    »Wollen Sie die gute oder die schlechte Nachricht zuerst?«
    Doktor Rothaler schaute Gisela aus seinen klaren blauen Augen offen an. Gisela war seine forsche Art schon gewohnt.
    »Erst die schlechte. Falls die mich umhaut, bringt mich die gute hoffentlich wieder auf die Füße.«
    »Das Kurzzeitgedächtnis Ihres Vaters ist kaum mehr vorhanden.«
    Sein Blick wanderte zu Jakob, der auf seine verschränkten Hände sah und augenscheinlich kein Wort hörte. Doktor Rothaler und Gisela wussten, dass dem nicht so war. Jakob war es einfach unangenehm, wenn in seiner Anwesenheit über ihn gesprochen wurde. Er hatte nie gern im Mittelpunkt gestanden.
    »Das bedeutet, er vergisst Dinge, die Sie ihm vor ein paar Minuten gesagt haben, er wird Sie immer häufiger nicht erkennen, und seine gewohnte Umgebung wird ihm allmählich fremd erscheinen. Wir müssen ihm Hilfestellungen geben, damit er im Alltag einigermaßen gut zurechtkommt.«
    »Aha«, kam es rauh aus Giselas Mund. Ihr Hals war vollkommen ausgetrocknet, ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Luft gefüllt.
    »Sie müssen sich daran gewöhnen, in einfachen Sätzen zu reden. Er wird oft aufbrausend reagieren, weil er nicht versteht, was Sie von ihm wollen. Er meint es nicht böse, er hat nur Angst, weil ihm nichts in seiner Welt mehr Orientierung
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