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Unter aller Sau

Unter aller Sau

Titel: Unter aller Sau
Autoren: Christian Limmer
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Baumwipfel mit tiefen Atemzügen ein, schloss für einen Moment die Augen und spürte einem Gedanken nach, der sich allmählich in seinem Kopf formte.
    Er öffnete die Augen, sein Blick war glasklar. Er schaute zu Erwin. Der hatte mittlerweile ein Bein angewinkelt, stützte sich mit dem Ellbogen müde darauf ab. Er war kurz davor aufzustehen.
    »Wir legen die drüben ab«, flüsterte Richie.
    Sein Kollege runzelte nur die Stirn, zu einer formulierten Frage war er noch nicht fähig. Richie deutete auf eine Stelle am anderen Ufer des Baches.
    »Da drüben. Sind nur zwei Meter, dann geht uns das Ganze nichts mehr an, dann können sich die Grünhardinger damit rumschlagen.«
    Erwin starrte auf den Grünhardinger Gemeindewald. Tapfer huschten dabei seine Augen an Schneewittchen vorbei. Immerhin reichte seine Kraft, um den Kopf zu schütteln. Richie tapste auf Erwin zu, half ihm hoch.
    »Weißt du, was das bedeutet, wenn wir die da liegen lassen?«, fragte er.
    »Arbeit«, lispelte Erwin.
    »Nicht nur das.« Der Schreck stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Der Straubinger kommt dann wieder.« Die letzten Worte hauchte er, als hätte er Angst, den Teufel heraufzubeschwören, sollte er zu laut sprechen. Erwin schien diese Angst zu teilen, denn er glotzte ohne weiteren Brechreiz auf Schneewittchen. Er wägte ab, ob der Straubinger Hauptkommissar Lederer ein größeres Übel war, als die Leiche ein paar Meter durch den Wald zu tragen. Schließlich drängten sich Vernunft und Anstand wieder nach vorne. Erwin schüttelte den Kopf.
    »Das können wir nicht machen.«
    Richie war sichtlich enttäuscht, dass seine großartige Idee bei seinem Freund auf taube Ohren stieß. Er straffte sich, schob sein Kinn trotzig vor.
    »Na gut, dann mach ich’s alleine.«
    Richie drehte sich um, stapfte zu Schneewittchen. Erwin rappelte sich auf, hetzte ihm hinterher, packte ihn am Ärmel.
    »Jetzt spinn nicht rum.«
    Richie ignorierte Erwin. Der ließ den Ärmel los, packte Richie an der Schulter, riss ihn herum und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Vögel flogen auf. Richie stiegen Tränen des Schmerzes in die Augen, fassungslos rieb er sich die Backe.
    »Was willst du denn der Gisela sagen? Die weiß doch schon, dass die bei uns liegt«, sagte Erwin. »Außerdem würden wir den Tatort verfälschen, und auch wenn wir den Straubinger nicht ausstehen können, er ist Polizist wie wir, und das macht man einfach nicht.«
    Richie seufzte, Luft wich aus seinem Körper wie aus einem porösen Luftballon, und er nickte. Erwin klopfte ihm erleichtert auf die Schulter.
    Gisela kam knapp zwei Stunden später das Bachufer entlang auf Erwin und Richie zu. Die beiden Polizisten hockten etwas abseits in sehnsüchtiger Erwartung ihrer Chefin. Sie sprangen auf und staksten ihr entgegen.
    »Also, wo ist sie?«
    »Die schaut aber gar nicht gut aus«, warnte Erwin.
    »Das ist mir wurscht, wie die ausschaut, wo liegt sie?«
    Erwin deutete zu Schneewittchen. Giselas Blick folgte seinem Finger, kurz zögerte sie, dann steuerte sie auf die Leiche zu. Erwin und Richie blieben zurück. Sie würden erst kommen, wenn Gisela sie brauchte.
    Die ging neben Schneewittchen in die Hocke, besah sich nach dem ersten Schock die junge Frau aufmerksam. Zerlaufener Mascara, künstliche Fingernägel, ein Stringtanga unter dem Negligé.
    Gisela schlich um die Leiche herum, sie wollte jedes Detail aufnehmen. Zum ersten Mal war der Tod so nah und präsent, und von der Toten ging eine eigentümliche Faszination aus. Wer war sie? Wie war sie gestorben? Warum lag sie in dieser Aufmachung hier im Wald? Und wie jung sie war. Warum musste so ein junger Mensch schon sterben? Sie sah kaum älter aus als fünfundzwanzig, doch die wächsern wirkende Haut und die fehlenden Augen machten sie womöglich älter, als sie war. Sie mochte achtzehn sein. Sie hatte durchstochene Ohrläppchen, aber keinen Schmuck darin. Keine Ringe, kein Halskettchen, nichts, womit sich junge Frauen normalerweise schmücken. Schneewittchen wirkte jungfräulich, und für einen Moment schoss Gisela der Gedanke durch den Kopf, dass sie vielleicht an einem vergifteten Apfel gestorben war. Kein Märchen, das hier war kein Märchen, jagte der nächste Gedanke hinterher.
    Gisela betrachtete den Rücken, die Wirbelsäule zeichnete sich wie ein verknöchertes Reptil unter der Haut ab. Waren das Muttermale? Gisela lupfte vorsichtig das Negligé nach oben. Auf Höhe der Nieren waren zwei faustgroße grünblaue Flecken.
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