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Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Titel: Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Autoren: Ulla Froehling
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musste sie dreimal den weiten Weg von Graz nach Groß Schwülper zurücklegen. Aber das alles verschwindet, wenn sie singen kann. Im Gesang kann Gudrun alles vergessen.
    Mit unsrer Macht ist nichts getan,
    wir sind gar bald verloren;
    es streit’ für uns der rechte Mann,
    den Gott hat selbst erkoren.
    Der rechte Mann, denkt Gudrun, das muss dann wohl Paul Schäfer sein, jedenfalls sagt er das. Wohl ist ihr nicht bei dem Gedanken. Als sie ihn ein Jahr zuvor zum ersten Mal sah, erschrak sie, und eigenartige gemischte Gefühle stellen sich immer wieder ein, wenn er auftaucht. Einerseits bewundert sie ihn, andererseits ist er ihr unheimlich. Auch an diesem Wochenende. Zwar verdankt sie ihm, dass sie überhaupt hier sein darf, in Alfreds Nähe. Aber sie wird ihm auch etwas beichten müssen, und davor fürchtet sie sich. Auch ihre Mutter wirkt bedrückt, und Gudruns kleiner Bruder Basti*, der eigentlich gar nicht hatte mitkommen sollen, weicht der Mama nicht von der Seite.
    Einige Tage zuvor war Gudrun aus Graz in den Norden getrampt, um beim Aufbau der Zelte zu helfen. Sobald die Zelte standen, sollte sie wieder zurück nach Hause trampen, um auf die jüngsten Geschwister aufzupassen, den siebenjährigen Basti und die vierjährige Hedi, damit die Eltern, Mina und Wilhelm Wagner, mit Hannchen nach Norden reisen und ungestört die Zeltfreizeit genießen könnten.
    Doch Paul Schäfer hat andere Pläne. Er nimmt Alfred und Herbert beiseite und weist sie an, Mina Wagner in Graz zu überreden, ihre beiden Jüngsten unbedingt mitzubringen. So könne auch Gudrun an der Freizeit teilnehmen und müsse nicht zur Aufsicht der Kleinen in Graz zurückbleiben. »Auf die Kleinen wird aufgepasst«, lässt er ausrichten. Eine merkwürdige Anweisung, ein eigenartiges Hin- und Herfahren. Was kümmert ihn Gudrun? Aber Schäfers Befehle werden nicht hinterfragt. Was hätte er auch sonst sagen sollen? Die Wahrheit sicher nicht: Ich hab den kleinen Basti gesehen und will ihn haben. Schäfers fürsorglicher Hinweis, dann könne auch Gudrun an der Freizeit teilnehmen, ist wohl nichts als Tarnung. Ob Schäfer diese Wahrheit vor sich selbst noch zugibt, oder ob er auch glaubt, was er verkündet?
    Gudrun macht sich keine Gedanken darüber; je länger sie mit Alfred unterwegs sein kann, desto besser. Egal, wohin, egal, ob sie trampen müssen oder mit einem von Schäfers Wagen fahren dürfen. Gudrun ist vierzehn und so verliebt, dass Alfred, der Mann neben ihr auf dem Rücksitz des braunen VW Bulli, mit einiger Vorfreude die zehnstündige Fahrt von Groß Schwülper in Niedersachsen nach Graz in Österreich antritt, auf die Paul Schäfer ihn schickt. Alfred Matthusen ist viel größer als Gudrun. Glücklich strahlt die Kleine zu ihm hoch. Für sie war es Liebe auf den ersten Blick. Sie glaubt, für ihn auch. Aber sie reden nie darüber.
    Zu viert treten sie die Reise an, um die Grazer Familien abzuholen: Alfred, Herbert, Ingrid und Gudrun, die Jüngste. Dabei kommt es zu »engeren Kontakten«, so formuliert Gudrun das. Sie knutschen auf dem Rücksitz. Doch noch wichtiger als das Knutschen scheint es für Alfred zu sein, diese sündige Tat als Erster bei Paul Schäfer zu beichten. Gudrun muss ihm versprechen, dass sie ihm den Vortritt lässt.
    Dass die Küsse auf dem Rücksitz ein ganz privates Vergnügen sein können, das man einfach für sich behält, ist für beide unvorstellbar. In ihren Augen ist es eine Schuld, ein Vergehen gegen Gott, das man beichten muss. So etwas dürfen sie nicht tun. Aber was eigentlich? Was wirklich geschah, weiß Gudrun am Ende der Fahrt nicht mehr. Nur dass sie kurz vor Graz, ein wenig aufgelöst, auf dem Rücksitz des Autos aufwacht und nicht fragen mag, was geschehen ist.
    Die Verhandlungen mit Mina Wagner in Graz gestalten sich schwierig. Gudruns Mutter will die Jüngsten partout nicht mitnehmen. Misstraut sie Schäfer schon? Jedenfalls hält sie deutlich mehr Abstand als ihr Mann, der Schäfers Nähe sucht. Schließlich gibt sie doch nach, und alle machen sich zusammen auf die Reise. Zuerst nach Salzburg, wo eine weitere Familie zusteigt. Nun wird es eng im Wagen, Gudrun und Alfred müssen aussteigen und von Salzburg nach Groß Schwülper trampen. Im Bus wird viel gesungen. Fast der ganze Wagner-Chor ist in Schäfers VW Bulli versammelt. Sie üben Lieder, die sie auf der Freizeit vortragen wollen. Mit einem dieser Lieder wird Gudrun dann, ganz nebenbei und ohne es zu bemerken, den kleinen Wolfgang Müller mitten ins
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