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Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Titel: Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Autoren: Ulla Froehling
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ein Bekenntnis zu Schäfer und gegen ihren Mann. Was sie allerdings ablehnt.
    Als bei einer Gemeindestunde aber plötzlich 23 Leute aufstehen und hinausgehen, um die Gemeinde zu verlassen und Schäfer zu folgen, ist Harry endgültig alarmiert.
    Der kann reden, was er will, denkt er bei sich, aber nicht mit mir.
    Als frecher Halbstarker verlegt Harry sich auf Sabotage, vertauscht Zündkerzen, verstopft den Auspuff von Schäfers Wagen, damit der mit seinen Leuten nicht mehr zur Kapelle kommt. Mit Autos kennt Harry sich aus, hat er doch einen der begehrten Arbeitsplätze bei VW im benachbarten Wolfsburg ergattert. Und während der Zeltfreizeit im August 1956, an der auch Wolfgang und dessen Vater kurze Zeit teilgenommen haben, braust Harry Friedrich schließlich mit Freunden in einem alten Adler Trumpf 1936 – nicht mehr zugelassen, aber legendär – mitten durch die Okerwiesen und stört die Versammlung.
    Doch da sitzt der kleine Wolfgang, der das – wie jeder kleineJunge – sicher gern miterlebt hätte, schon wieder neben seinem Vater im Auto und ist auf dem Weg nach Hause. Wenige Stunden nur haben sie auf der Zeltfreizeit verbracht. Ohne es zu ahnen, hat der Vater seinem Sohn noch ein Jahr Kindheit geschenkt. Nur noch eines.
    Zur selben Zeit, dreihundert Kilometer weiter südwestlich, macht der deutsche Bundeskanzler Urlaub. In seinem Ferienort Bühlerhöhe gibt Konrad Adenauer den volksnahen Kanzler. Aus gutem Grund: Im nächsten Jahr ist Bundestagswahl. Auf seinen Spaziergängen begleiten »ganze Züge Schaulustiger« den achtzigjährigen Kanzler – wie der Spiegel berichtet und auch im Bild zeigt. Heute bewirtet Adenauer die 120 Sänger des Werkschors der Dynamit Nobel AG aus Troisdorf bei Köln. Zusammen mit ihnen schmettert der Kanzler »Muß i denn zum Städtele hinaus«. Der Werkschor aus Paul Schäfers Heimatort – Schäfer hatte auch bei Dynamit Nobel gearbeitet – revanchiert sich dafür auf Adenauers Wunsch hin mit dem Schubert-Lied »Im Abendrot«:
    O wie schön ist deine Welt,
    Vater, wenn sie golden strahlet!
    Wenn dein Glanz herniederfällt
    Und den Staub mit Schimmer malet,
    Wenn das Rot, das in der Wolke blinkt,
    In mein stilles Fenster sinkt!
    In Wolfgangs Ohren klingen noch die Lieder des Wagner-Chors nach, und die Kleine mit dem blonden Kranz geistert durch seine Gedanken, während er und sein Vater Heinz nebeneinander schweigend die Rückfahrt nach Lutter hinter sich bringen, jeder allein in seinen Gedanken.
Groß Schwülper, Sonntag, 5. August 1956, mittags
GUDRUN WAGNER
    Mit unsrer Macht ist nichts getan,
    wir sind gar bald verloren;
    es streit’ für uns der rechte Mann,
    den Gott hat selbst erkoren.
    Ganz hingegeben ist Gudrun Wagner an den Gesang. Den kleinen rothaarigen Jungen, der sie wie verzaubert anschaut, einen Nachmittag lang, und der sie nicht vergessen wird, sein Leben lang, den hat das vierzehnjährige Mädchen noch nicht einmal bemerkt. Hier laufen so viele kleine Jungen herum.
    Ihr Blick sucht Alfred, nur für ihn hat sie Augen. Alfred Matthusen ist fünf Jahre älter als sie, ein richtiger Mann. Im Jahr zuvor war Alfred nach Graz gekommen, in Gudruns Heimatstadt, im Tross von Paul Schäfer, der durch die Lande zieht wie ein Wanderprediger, auf der Suche nach Seelen, auf der Jagd nach Körpern. Alfred ist es, der Gudrun für die Schäfer-Gemeinde einfängt und dem sie nun zusammen mit ihrer Familie aus ihrer Heimatstadt Graz nach Groß Schwülper gefolgt ist. Vorerst nur für zwei Ferienwochen.
    Alfred Matthusen ist einer der »Ältesten«, einer der »Brüder«. So nennt Paul Schäfer seinen engeren Kreis, die sechs jungen Männer, mit denen er von Gartow im Wendland aus durch die Lande zieht. Gerhard Mücke, Rudolf Cöllen, Heinz Kuhn, Horst und Herbert Münch. Mit Schäfer sind sie sieben.
    Gudrun ist in einer sehr musikalischen Familie aufgewachsen. Gern und oft wird gesungen. Sie spielen viele Instrumente, treten zusammen auf. Wagner-Chor, diesen Namen haben sie schnell weg, denn sie sind die tragende Kraft auf den Versammlungen, singen alle Stimmen: Sopran, Tenor, Alt, Bariton, Bass – alles dabei. Auch Gudruns Tante Resi und Onkel Wöhri gehören dazu; mit dem Onkel zusammen singt Gudrun die dritte Stimme. Hannchen* 17 , die älteste Schwester, singt die zweite Stimme, Hilde und die Mama die erste, und Papa gibt den Bass.
    Aber heute ist Gudrun verwirrt, sie fühlt sich schuldig und hat Angst. Erschöpft und übermüdet ist sie außerdem; in den letzten Tagen
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