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Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Titel: Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Autoren: Ulla Froehling
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Hervorragend geeignet zum Verdrängen. An eine Aufarbeitung der Nazizeit ist noch lange nicht zu denken.
    Während Wolfgang und sein Vater nicht recht wissen, wie sie sich unter diesen fremden Menschen bewegen sollen, macht sicheiner schon auf den Weg zu ihnen: Paul Schäfer. Den rotblonden Jungen in der kurzen Fußballhose hat Schäfer sofort erspäht, als dieser aus dem VW Käfer klettert und mit seinem Vater den Versammlungsplatz in Groß Schwülper betritt. Er geht auf Wolfgang zu.
    »Rote Haare, Sommersprossen sinddes Teufels Volksgenossen«, sagt Schäfer munter, ein Spruch aus jüngst vergangener Zeit, fährt Wolfgang mit der Hand durch die Haare, fragt: »Wer bist du denn? Ich bin der Onkel Paul« und drückt den Jungen an sich. Ein Test. Dies ist Wolfgangs erste Begegnung mit Paul Schäfer. So aufmerksam wahrgenommen zu werden ist ungewohnt für den kleinen Jungen. Im Sommer 1956 ist Wolfgang noch ein Kind. Ein vernachlässigtes Kind, hungrig nach Zuneigung. Manche hänseln ihn, dann wird er so rot wie seine Haare. Paul Schäfer erkennt diese Kinder. Er weiß um ihre Bedürftigkeit und um ihre Wehrlosigkeit. Er nimmt ihre Spur auf.
    Doch jetzt geht es ins Zelt zum Essen. Dabei verfliegt das eigenartige Gefühl schnell, das Wolfgang nicht benennen kann. Im Zelt stehen schon die Frauen, verteilen Brot und Suppe. Und da ist auch die Mutter.
    Ein’ feste Burg ist unser Gott, ein’ gute Wehr und Waffen.
    Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen.
    Wolfgang hört den vielstimmigen Chor, er geht vor das Zelt, seinen Teller noch in der Hand. Paul Schäfer hat er schon wieder vergessen. Die Sonne steht hoch über dem Horizont, ihre Strahlen lassen die kabbeligen Wellen des kleinen Flusses aufblitzen. An der Flussbiegung springen einige Dorfkinder ins Wasser. Neugierig gucken sie zu den Menschen der Zeltmission herüber, über die man im Dorf so einiges munkelt. Ganz Mutige schleichen sich hinter den Büschen heran. Irgendwo wiehert ein Pferd. Wolfgang sieht die überhängenden Weiden, er riecht das gemähte Gras, hört den Gesang. Er geht näher zum Chor hin. Fünf Mädchen und Frauen stehen an der rechten Seite. Sie sehen sich ähnlich. »Der Wagner-Chor«, sagen die Leute, verstummen und lauschen. Da entdeckt Wolfgang die Kleine. So denkt er: die Kleine; ihren Namen kennt er noch nicht. Die Kleine, dabei ist er neun und sie vierzehn Jahre alt. Aber er ist groß für sein Alter und sie klein. So eine Kleine, Feine, sie ist so zart. Er mag sie sofort.
    Viel ist da zusammengekommen an diesem Tag, der Fußballsieg und die Fahrt mit dem Vater, der Duft des Sommers, ein wenig Freiheit, so viele fremde, neue Gefühle. All dieses Entzücken bündelt Wolfgang für alle Zeit im Anblick des kleinen Mädchens mit der klaren schönen Stimme und dem dicken Zopf auf dem Kopf. In dem weißen Sommerkleid mit den schwarzen Tupfen und mit dem weit schwingenden Rock. Dass Paul Schäfer ihm mit Blicken folgt, bemerkt Wolfgang nicht, während er verträumt die Kleine betrachtet und weiter dem alten Kirchenlied von Martin Luther lauscht:
    Der altböse Feind, mit Ernst er’s jetzt meint;
    groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist,
    auf Erd ist nicht seinsgleichen.
    Als der Vater nach zwei Stunden heimfahren will, ist Schäfer wieder zur Stelle.
    »Lass doch den Jungen hier«, schlägt er ihm vor.
    Aber Wolfgangs Vater will nicht. Was ihn davon abhält, könnte er nicht sagen, er denkt auch nicht darüber nach. Es ist bloß so ein Gefühl. Und über Gefühle spricht man nicht. Schon gar nicht als Mann. Wolfgangs Erziehung durch den Vater ist streng, aber ohne körperliche Gewalt.
    »Es ging alles mit Blicken, dann saßen wir stramm wie die Zinnsoldaten«, erinnert er sich später.
    Die einzige Ohrfeige von seinem Vater wird er zwei Jahre später bekommen, bei der »Schlacht von Göteborg«, als Schweden im Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft gegen Deutschland gewinnt. Wolfgang und sein Vater sitzen bei dem Nachbarn auf derCouch, Müllers selbst haben noch keinen Fernseher. Gespannt verfolgen sie das Spiel. Als Fritz Walter verletzt vom Platz getragen wird und Deutschland 3 : 0 verliert, kullern Wolfgang die Tränen übers Gesicht. Und sein Vater haut ihm eine runter. Ein Junge weint nicht. Schon gar nicht vor Fremden. So eine Lektion muss nicht wiederholt werden.
    »Lass doch den Jungen hier«, sagt Paul Schäfer.
    »Nein«, sagt der Vater.
    Zehn Jahre zuvor, mit 26 Jahren, war der Jugendpfleger
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