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Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Titel: Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Autoren: Ulla Froehling
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leichter sind diese Menschen zu steuern. Sektenführer in aller Welt wissen das. Psychologisch gesehen ist Zungenreden ein Regressionszustand, der Glücksgefühle auslösen kann. Besonders bei Menschen, die starker Kontrolle und Regulierung unterliegen, kann ritualisierte Ekstase unterdrückte Gefühle freisetzen. Ist der kritische Verstand ausgeschaltet, empfinden sich Gläubige umso leichter als Werkzeug Gottes. 20
    Ekstase – Außer-sich-Sein: Menschen suchen diesen Zustand, den sie als ein Aus-sich-Heraustreten, Über-sich-Hinauswachsen erleben. Sie sehnen sich danach, suchen es in Sexualität, Meditation, Drogenrausch, Religion, Askese und Exzess. Allein, in Gruppen oder in Menschenmassen wie bei der Love Parade .
    Das Alltagsbewusstsein verlassen, sich leer machen für neue Erfahrungen, sich öffnen für neue Empfindungen. Intensive Gefühle erleben, die zittern und beben lassen: Alle Religionen kennen die Ekstase. In der griechischen Antike bescherte der Gott des Weines den Menschen dionysische – ekstatische – Erfahrungenim Rausch. Im alten Rom war es Bacchus. »Im Begreifen ergreift der Erkennende das Erkannte, in der Ekstase aber ergreift das Erkannte den Erkennenden«, schrieb Bonaventura, Philosoph und Theologe schon im Jahre 1255.
    In den Sechziger- und Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts waren es bewusstseinsverändernde Drogen – von Haschisch über LSD bis Kokain 21 , Heroin. Das Musical »Hair« bündelte Erfahrungen der Hippie- und Friedensbewegung; der indische Yogi Maharishi Mahesh lehrte die Beatles – und Millionen Menschen weltweit – Transzendentale Mediation. Transzendiert werden sollte das normale Alltagsbewusstsein, dann könnte man angeblich aus eigener Kraft fliegen.
    Schon Gudruns Großvater empfing Botschaften von Gott. »Nimm deine Familie und geh nach Kärnten«, befahl ihm eine Stimme, als er 1928 auf einem Acker in der Nähe von Bromberg in Posen bei der Feldarbeit war. Dreimal ordnete die Stimme das an, aber es war niemand zu sehen. Wenige Jahre zuvor war er von Österreich nach Westpreußen gezogen. Und jetzt sollte er wieder zurück? Er seufzte, aber er fügte sich und kehrte mit Frau und fünf Kindern heim nach Österreich. Auch seine Schwester folgte ihm, die dreizehn Brüder aber blieben in Bromberg zurück. Alle wurden ermordet – so jedenfalls erzählt es die Familiensaga. Warum und durch wen, sagt sie nicht. Falls die Geschwister bis 1939 bei Bromberg geblieben waren, könnten sie Opfer des »Bromberger Blutsonntags« geworden sein, eines Kampfes zwischen Polen und volksdeutscher Minderheit im polnischen Korridor, bei dem vermutlich 5 437 Deutsche ums Leben kamen – zwei Tage nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen am 1. September 1939, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. 22
    Falls diese Rekonstruktion zutrifft, hätte Gott mit elfjähriger Vorlaufzeit eine Frühwarnung abgegeben. Leicht zu verstehen, dass diese Familie auf göttliche Botschaften lauscht. Auch Wunderheilungen soll es gegeben haben. Der Großvater, von dem dieses ausging, wurde 97 Jahre alt, ein gesegnetes Alter. Mina, eine der Töchter dieses beeindruckenden Mannes, heiratete den Gärtner Wilhelm Wagner aus dem österreichischen Burgenland; zusammen bekamen Mina und Wilhelm sieben Kinder, eines von ihnen ist Gudrun. Drei Kinder waren schon auf der Welt, als Wilhelm Wagner als Panzerfahrer im Zweiten Weltkrieg das Gelübde ablegte, eine eigene Pfingstgemeinde zu gründen, sollte er je lebend aus Russland nach Hause kommen. Er kam nach Hause. Er gründete die Gemeinde.
    Diese kleine Gemeinde wird Paul Schäfer auf einem seiner Raubzüge erbeuten.
Groß Schwülper, Sonntag, 5. August 1956, nachts
PAUL SCHÄFER
    Auch Paul Schäfer lauscht dem Gesang des Wagner-Chors. Besonders ein Vers ist ganz nach seinem Sinne:
    Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib:
    lass fahren dahin, sie haben’s kein’ Gewinn,
    das Reich muss uns doch bleiben.
    Sein eigenes Reich will Schäfer errichten, eines, aus dem niemand ihn verjagen kann. Im Frühjahr hat er vor den Brüdern seiner Gemeinde ausführlich zu biblischer, geistlicher, menschlicher, leiblicher Zucht und Ordnung in der Ehe gepredigt. »Sündig, sündig, sündig, ihr seid alle sündig!«, hat er sie angeschrien. So wie Gott es ihm eingab. Ehelosigkeit ist das Ziel, und wenn nicht das, dann wenigstens eine Ehe ohne Fleischeslust. Wie es das alte Luther-Lied sagt: »Kind und Weib lass fahren dahin, sie haben’s kein’ Gewinn.«
    Sein Blick
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