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Ungeheuer

Ungeheuer

Titel: Ungeheuer
Autoren: Claudia Puhlfürst
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nicht die Einzige, die er so begrüßte. Fast immer wollte Tom etwas, wenn er Komplimente verteilte. Sie wusste nicht, was es diesmal war, aber er würde sicher gleich damit herausrücken.
    »Möchtest du einen Kaffee?«
    »Ich weiß nicht recht. Mir brummt der Schädel.«
    Tom hörte ihre ausweichende Antwort nicht, weil er schon auf dem Weg in die Küche war. Er kam zurück, die randvolle Tasse vorsichtig in der Rechten balancierend, und nahm ihr gegenüber Platz.
    Lara trank einen Schluck. Das Gebräu schmeckte widerlich.
Der Kaffee hatte mindestens schon eine Stunde auf der Warmhalteplatte gestanden. Sie griff nach der halbvollen Flasche Selters, die noch von gestern auf ihrem Schreibtisch stand, und versuchte, mit dem lauwarmen Mineralwasser den bitteren Geschmack aus ihrem Mund zu spülen.
    »Gab es etwas Interessantes, während ich weg war?«
    »Bis jetzt nichts von Belang außer dem üblichen Tagesgeschäft. Vielleicht können wir heute pünktlich abhauen.« Sehnsüchtig sah Tom zum Fenster, dessen zugezogene Lamellenvorhänge das Sonnenlicht ausblendeten. Er hatte recht, alles war besser, als bei diesem Wetter hier am Bildschirm zu hocken.
    Lara schaltete ihren Computer ein und betrachtete den Stapel Papier in der Ablage mit herabgezogenen Mundwinkeln. Das wurde auch jeden Tag mehr. Man konnte in dem Glauben heimgehen, alles erledigt zu haben, und fand doch am nächsten Tag wieder den gleichen Berg vor.
    »Wie war es im Gericht?« Tom tippte und sprach gleichzeitig.
    »Schrecklich. Ich habe immer noch Kopfschmerzen.« Lara massierte wie zur Bestätigung mit den Händen ihre Schläfen. »Diese Mutter ist völlig teilnahmslos. Ich verstehe das nicht. Sie sitzt da und verzieht keine Miene. Lässt alles über sich ergehen, als wäre es nicht sie, über die hier gesprochen wird. Das eigene Kind verhungert und verdurstet vor ihren Augen, und es scheint ihr überhaupt nichts auszumachen.« Sie nahm sich vor, ihren Freund Mark deswegen anzurufen. Mark Grünthal war Psychologe. Mit Sicherheit konnte er das Verhalten der Mutter analysieren und Lara ein paar psychologische Hintergründe für die nachfolgenden Artikel liefern.
    »Ich kann mir vorstellen, dass dich das belastet.« Tom machte das, was er für ein mitfühlendes Gesicht hielt, und
sie unterdrückte den Wunsch, ihm zu sagen, dass er sich gar nichts vorstellen konnte. Sie nahm abwesend noch einen Schluck aus der Tasse und erinnerte sich zu spät daran, dass der Kaffee scheußlich schmeckte. Die Bitterkeit passte zu den Erinnerungsfetzen an die bisherigen Prozesstage.
    »Wie alt war denn das Kind?«
    »Drei Jahre.« In Laras Kopf tauchte das unbeschwerte Grinsen des blonden Jungen von vorhin auf, sie musste schlucken und erhob sich hastig, um ihre Tasse wegzubringen. Im Spiegel über dem Waschbecken sah sie, dass ihre Augen verräterisch feucht schimmerten. Es war ihr peinlich, dass sie hier vor dem coolen Tom von ihren Gefühlen übermannt wurde. Außerdem war es unprofessionell. Und doch gab es immer wieder Fälle, die auch den abgebrühtesten Gerichtsreporter nicht kaltließen. Dieser hier gehörte dazu.
    »Wann geht der Prozess weiter?« Tom klang gleichgültig.
    »Am Donnerstag, also übermorgen.« Sie zwinkerte ein paar Mal, schluckte und kehrte dann zu ihrem Schreibtisch zurück. »Auch über solche Fälle muss berichtet werden.«
    »Also, ich würde das nicht schaffen, mir das jeden Tag anzuhören und dann so neutral wie möglich darüber zu berichten.«
    »Deswegen mache ich es ja.« Lara schaute auf ihren Bildschirm. Die Buchstaben schienen im Takt der Kopfschmerzen zu flimmern.
    »Ihr Frauen seid wahrscheinlich härter in der Beziehung.« Tom wandte sich wieder seinem Monitor zu. »Würdest du den Wochenenddienst mit mir tauschen?«
    Lara, die in Gedanken schon bei ihrem Artikel war, brauchte einen Augenblick, um Toms Frage zu registrieren. Dann schaute sie zum gegenüberliegenden Schreibtisch. Der Kollege blickte stur nach unten. Die Tastatur klapperte emsig.

    »Meinst du kommendes Wochenende?«
    »Hm.«
    »Da muss ich nachschauen.« Das also war die Ursache für sein überfreundliches Getue vorhin. Lara sparte es sich, nach einem Grund zu fragen. Wer weiß, welches »Date« Tom dieses Mal dazwischengekommen war. Sie klappte ihren Kalender auf und studierte der Form halber die Eintragungen, obwohl sie wusste, dass dort nichts stand. Lara Birkenfeld hatte weder am fünfundzwanzigsten noch am sechsundzwanzigsten Juni eine Verabredung.
    Noch einmal
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