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Ungeheuer

Ungeheuer

Titel: Ungeheuer
Autoren: Claudia Puhlfürst
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wurde von Angst vor der Mutter geprägt, die ihn ohne Grund blutig geschlagen, ihn oft allein gelassen oder eingesperrt hat. Du erinnerst dich doch an den verschlossenen Raum im Keller?«
    Jo nickte, während vor seinem inneren Auge die Szene auftauchte, als er und Mark im Haus des Mörders nach Lara gesucht hatten.
    »Dort war er eingesperrt – manchmal tagelang, ohne zu wissen, ob und wann die Mutter wiederkommen würde. Auf eine solche Behandlung reagieren Kinder damit, dass sie die Gefühle der Angst und der Ohnmacht quasi wegschieben, sie verdrängen, bis sie dem Bewusstsein nicht mehr zugänglich sind. Dann schmerzen sie nicht mehr, aber sie sind trotzdem noch vorhanden und entwickeln aus der Tiefe einen ungeheuren Druck, der sich irgendwann Bahn bricht. Bei Martin Mühlmann gab es schon sehr zeitig unübersehbare Anzeichen  – er hat andere Lebewesen gequält, getötet und seziert, zuerst nur kleinere, später hat er sich dann aktiv größere Tiere besorgt, um mit ihnen zu experimentieren.«
    »Schön und gut, der Typ hat also Tiere zerlegt und ausgestopft. Aber das muss doch nicht heißen, dass so jemand anschließend Menschen umbringt.« Jo schüttelte den Kopf und
sah sich in dem Gartenlokal um. Sie waren jetzt die beiden Einzigen hier draußen.
    »Nicht unbedingt, nein. Als er älter wurde, muss Martin Mühlmann erkannt haben, dass er der heimischen Knechtschaft nur entkommen konnte, indem er der Mutter die Kontrolle entzog und danach die Rollen umkehrte und selbst Macht ausübte. Zuerst waren es mit Sicherheit Fantasien. Solche Erfahrungen fallen fast immer mit dem Beginn der sexuellen Entwicklung zusammen, und hier könnte sein sexuelles Machtbedürfnis seinen Ursprung haben. Diese Umkehrung des Ohnmachtsgefühls löst bei den Betroffenen ein grandioses Gefühl von Macht aus, das immer wieder erlebt werden will. Daraus entstehen weitere Fantasien, die klein beginnen und immer weiter ausgeweitet werden – immer in dem Wissen, dass es nicht sein darf.«
    »Ja, aber …« Jo führte den Satz nicht zu Ende.
    »Ich weiß, einem Außenstehenden ist so etwas fast immer unbegreiflich.« Mark holte tief Luft, nahm noch einen Schluck Bier und sah dann zur Uhr, ehe er fortsetzte. »Irgendwann beginnt der Täter dann, reale Fundamente für die Befriedigung seiner geheimen Wünsche zu schaffen, er bereitet sich vor, plant und organisiert in dem Bewusstsein, er könne all das tun, müsse aber nicht. Dabei kann es jahrelang bleiben.«
    »Das heißt aber doch, dass es trotz all der Fantasien einen konkreten Anlass für den Beginn der Morde gegeben haben muss?«
    »Da hast du vollkommen recht. Es gibt fast immer einen Auslöser. Manchmal ist sich der Täter dessen selbst nicht bewusst. In unserem Fall kann es die zunehmende körperliche Schwäche der Mutter gewesen sein, die Martin Mühlmann dazu brachte, seine Überlegenheit zu erkennen. Er beschloss, sich an ihr zu rächen.«

    »Hat er sie etwa auch umgebracht?« Jo betrachtete die Gänsehaut an seinen Unterarmen.
    »Davon geht man inzwischen aus, auch wenn es nach so langer Zeit schwer ist, Beweise dafür zu finden. In dem Moment, in dem er den Schritt von der Wunschvorstellung zur Tat gegangen ist, ergibt sich für den Täter eine ungeheure Befriedigung, die er immer wieder durchleben möchte. Mit jedem weiteren Opfer bestrafte er die Mutter erneut und durchlebte von Neuem diese Genugtuung.« Mark schnaufte abschließend. »Das ist meine Sicht der Dinge. Ich denke aber, die Gutachter werden zu ähnlichen Schlüssen kommen. Wir werden es bald wissen.«
    Jo nickte, nahm seine Jacke von der Stuhllehne und warf sie sich über die Schultern. »Was ist denn eigentlich aus dem Aufruhr wegen der Weitergabe interner Informationen an die Tagespresse geworden?«
    »Hat sich im Sande verlaufen.« Mark nahm einen großen Schluck. »Dein karrieregeiler Kollege Tom hat natürlich alles abgestritten. Handfeste Beweise, dass tatsächlich er den Artikel verfasst hatte, hat niemand. Und wenn schon – Tom wäre der Letzte, der zugeben würde, aus welcher Quelle seine Informationen stammen. Ich habe ja auch nie persönlich mit ihm darüber gesprochen. Der Gauner hatte Laras Notizen kopiert.«
    »Aber einen Verdacht gab es schon, dass die Interna von dir kamen, oder?«
    »Das kannst du annehmen. Beweisen konnten sie mir jedoch nichts. Zum Glück praktiziere ich als niedergelassener Arzt und bin kein Staatsdiener. Ansonsten hätte mir wahrscheinlich ein Disziplinarverfahren
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