Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ungeheuer

Ungeheuer

Titel: Ungeheuer
Autoren: Claudia Puhlfürst
Vom Netzwerk:
mitbekam. Lara schickte Befehle in ihre Füße, aber diese bewegten sich keinen Millimeter. Der Psychopath hatte recht. Ihre Beine waren wie abgestorben, und sie hatte keine Ahnung, ob fünf Minuten ausreichen würden, sie wieder zum Leben zu erwecken. Dafür war die rechte Hand nicht aufzuhalten. Vorsichtig krochen die Finger unter den Bund und krampften sich am warmen Rund der Öse fest, um den Stab dann in Zeitlupe hervorzuziehen, während sie unentwegt überlegte, ob das Schwein sie beobachtete; ob er sehen konnte, was sie da gerade unter dem Hosenbund hervorholte. Mitten in ihre behutsamen Bewegungen hinein tönte ein keuchendes »Vier Minuten!«. Es war aus dem Hintergrund gekommen. Demnach lauerte der Irre irgendwo hinter Lara im Gebüsch, und das bedeutete wiederum, dass er nicht jede ihrer Bewegungen sehen konnte. Das Kribbeln in ihren Beinen wuchs zu einem peinigenden Stechen. Schnell krümmte sie Zeige- und Mittelfinger durch die Öse und schob den Stab mit der Spitze voran unter ihren Ärmel.
    Sie glaubte dem Schwein kein Wort. Der Typ hatte ihr sein Gesicht gezeigt, sie kannte seine Wohnung, konnte die Einrichtung beschreiben. Und da erwartete er, sie wäre so naiv zu glauben, dass er sie entkommen lassen wollte?
    Nie im Leben! Sie würde kämpfen müssen. Und genau das hatte Lara Birkenfeld vor. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, erneut die Zehen zu bewegen. Der Schmerz in
den Beinen schien unerträglich, und doch zwang sie die Füße vor und zurück, hob sie schließlich an. Wie zwei Bleisäcke plumpsten sie geräuschlos auf den Boden.
    »Noch drei Minuten, meine Beste! Wie kommst du voran?«
    Lara umklammerte das Oberteil des Stabes fester und versuchte, ihre Wut zu zügeln und nachzudenken, während das Leben in ihre Beinmuskeln zurückkehrte. Was hatte der Irre tatsächlich mit ihr vor? Was, außer dem Ausweiden von Leichen, bereitete ihm noch Vergnügen?
    Es war die Jagd, die teuflische Hatz, er selbst hatte es ihr gesagt. Sie – das angstvoll flüchtende Wild, er der überlegene Jäger. Er war ein Ungeheuer: Wenn sie ihm den Gefallen tat und blindlings durch den Wald stolperte, würde er sie verfolgen und sich am Jagen ergötzen. Bis er genug davon hatte. Seine Opfer waren ausgeweidet in Waldstücken aufgefunden worden. Und dieses Schicksal blühte auch ihr.
    »Zwei Minuten! Gib dir Mühe!«
    Sie musste etwas tun, das er nicht erwartete. Aber was war das? Womit rechnete dieser Psychopath nicht? Das Kribbeln ließ nach, und Lara begann damit, die Beine zu strecken und wieder anzuwinkeln. In den Füßen hatte sie inzwischen so viel Gefühl, dass sie mit den Sohlen den stachligen Waldboden fühlen konnte. Er hatte ihr die Schuhe ausgezogen, wohl damit sie nicht so schnell vorankam. Was, wenn sie einfach hier sitzen blieb, so tat, als könnte sie nicht laufen, und auf ihn wartete?
    Lara versuchte, in die Nacht zu lauschen, aber es war totenstill. All die kleinen Waldtiere waren verstummt, harrten mit furchtsamem Zweifel, warteten stumm auf das, was gleich geschehen würde.
    »Noch eine Minute!« Das »eine« wurde triumphierend herausgeschleudert.

    Laras Atem beschleunigte sich. Die Finger, die den Stab umklammerten, wurden feucht. Sie wusste noch nicht, ob ihre Beine die Last des Körpers tragen würden, sie wusste noch immer nicht, ob sie gleich aufstehen und fliehen oder hier sitzen bleiben und auf ihn warten sollte.
    »Dreißig Sekunden! Du solltest dich allmählich auf den Weg machen! Sonst hab ich dich ja gleich!« Irres Kichern hallte seitlich zwischen den Stämmen hindurch zu ihr herüber. Der Wahnsinnige veränderte seine Position.
    Lara stemmte die nackten Fußsohlen fest auf den Boden. Die Entscheidung war gefallen. Sie würde nicht kampflos aufgeben, willenlos in diesem Rollstuhl hocken und darauf warten, dass das Ungeheuer sie erledigte. Mit zitternden Armen drückte sie sich hoch und stand.
    Der Oberkörper schwankte ein-, zweimal wie Bambus im Wind, dann stabilisierte er sich. Aus der Schwärze kam ein Klatschen. Der Perverse applaudierte ihr. Glühender Zorn fraß sich durch Laras Adern und verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Den Metallstab hatte sie vorsorglich wieder rechts im Hosenbund verstaut. Nicht dass der Irre ihn vorzeitig bemerkte. Sie schob den Unterkiefer nach vorn und stakte los.
    Doctor Nex rückte das Nachtsichtgerät zurecht und betrachtete die grün flimmernde Gestalt. Sie sah klein und sehr verletzlich aus, wie sie da so zwischen den Kiefernstämmen stand. Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher