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Ungeheuer

Ungeheuer

Titel: Ungeheuer
Autoren: Claudia Puhlfürst
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ein Presslufthammer losratterte. Durch permanentes Starren in die Nacht hatte sich der Blick geschärft, und sie sah die borkigen Stämme und trauernden Zweige deutlicher. Sie versuchte, ihre Schultern zu lockern, drückte die Rückenwirbel durch und sah noch einmal an sich herab. Kein Zweifel, sie war splitternackt.
    Über ihr wiegte sich eine leichenblasse Mondsichel. Das widerwärtige Gefühl, beobachtet zu werden, wurde körperlich. Sie musste hier weg. Sauren Speichel hinunterschluckend, stakte Lara los, den Blick zwischen die grauschwarzen Pfeiler der Stämme gerichtet, die zitternden Arme ausgestreckt.
    Wenn man einen schlechten Traum hatte, konnte man ihn
entweder durchstehen und am nächsten Morgen über die Eskapaden eines schlummernden Gehirns den Kopf schütteln, oder man erwachte mitten im Film. Beides war keine bewusste Entscheidung.
    Da sie bis jetzt noch nicht erwacht war, würde sie dies hier wahrscheinlich irgendwie zu Ende träumen müssen.
    Im selben Augenblick verhakte sich der große Zeh an einer Unebenheit. Sie strauchelte, ruderte mit den Armen, und dann prallten beide Knie schmerzhaft auf den Boden.
    Noch ehe sie den Schmerz in den Schienbeinen registrieren konnte, legte sich eine kaltglatte Handfläche auf ihre Schulter, und eine Stimme säuselte: »Wohin des Wegs, schöne Frau?«
    Jetzt schrie sie. Kreischte ihre Angst und ihren Frust über diesen nicht enden wollenden Albtraum heraus, spuckte und geiferte, fuhrwerkte mit den Armen.
    Wieder packte die Geisterhand zu, fester diesmal, und die Stimme sprach, sie solle zuhören und schnellstens aus diesem Wald verschwinden, zehn Minuten gebe man ihr.
    Ich bin nicht freiwillig hier!, wollte Lara der Stimme zurufen, das ist doch nur ein furchtbarer Traum! Aber ihr Mund blieb stumm. Die Geisterhand ließ los, und ihre Beine bewegten sich ohne Befehl vom derzeit nutzlosen Gehirn vorwärts durch das Gestrüpp. Im Kopf hämmerte eine Stimme den Takt. Lauf! Lauf! Lauf! Lauf! Lauf!
    Mitten im Stakkato gab es einen Ruck, und sie fiel, fiel im Zeitlupentempo zu Boden. Versuchte dann davonzurobben, aber irgendetwas umschnürte ihren Hals, wie bei einem Hund, dessen Leine sich straff zieht. Straff und straffer.
     
    Lara stöhnte.
    Dann rollte ihr Kopf von rechts nach links. Sie spannte die Oberarmmuskeln und setzte sich auf. Ihr Kopf zuckte von
rechts nach links. Weit aufgerissene Augen bezweifelten, was sie sahen.
    Schatten taumelten an den Wänden. En fahler Halbmond schien herein. Irgendwo knarrte ein halbgeöffnetes altes Holzfenster. Verwaschene Äste webten Muster an eine graue Wand. Sie bemerkte, dass sie noch immer wimmerte, und sah an sich herab. Die Decke war von ihrem Körper gerutscht. Im Halbdunkel schienen die kleinen Blümchen auf ihrem Nachthemd grau zu sein. Ihr Herz raste. Lara fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und wischte die kalte Feuchtigkeit beiseite. Dann atmete sie mehrmals langsam tief ein und aus, schüttelte den Kopf und schwang die Beine aus dem Bett. Sie würde jetzt das durchgeschwitzte Nachthemd wechseln, eine heiße Milch trinken und dann versuchen, wieder einzuschlafen.
    Einen Zentimeter vor der Bauchdecke stoppte der Arm. Im Mondlicht funkelte die glattgeschliffene Klinge. Der Mann beugte sich dicht über das, was noch vor zehn Minuten durch den Wald gehetzt war, und schnüffelte. Der Körper dünstete sauren Schweiß aus. Das hatte er nicht erwartet. In seinen Fantasien war das Wild immer kalt und marmorbleich gewesen und hatte nach nichts gerochen. Schade.
    Aber schließlich war er nicht zum Riechen hier. Viel interessanter war der Inhalt dieses stinkenden Leibes. Das Skalpell zuckte nach unten. Geruhsam glitt die silbrige Klinge über die im Licht des Nachtsichtgeräts hellgrün schimmernde Haut und hinterließ einen dunklen, kaum sichtbaren Strich. Er hatte lange überlegt, an welcher Stelle er den ersten Schnitt ansetzen sollte, und sich dann für die klassische Y-Variante entschieden. Der Mann vermeinte, ein feines Zischen zu hören,
aber das war sicher nur Einbildung. Er vollführte am Ende der Linie eine schwungvolle Handbewegung, hob das Skalpell und drapierte es auf dem Damasttuch. Die Schneide hinterließ grünschillernde Ränder auf dem weißen Stoff. Der Mann wusste, dass sie in Wirklichkeit dunkelrot waren.
    Weiße Chirurgenfinger spreizten die Wundränder auseinander. Die Körperwärme des Kadavers drang durch die dünne Latexhaut. Es floss nur wenig Blut. Im Innern des klaffenden Mauls
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