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Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)

Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)

Titel: Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Autoren: Lee Child
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blockierten Bremsen. Daher das typische Jaulen, wenn sie zum Stehen kommen.
    Ich rechnete mir aus, dass das selbst nach unserem Kriechen der Fall sein würde. Der Revolver war im Prinzip das Gewicht am Ende eines Pendels. Ein langer dünner Arm, dann ein Kilo Stahl. Wenn die Bremsen griffen, würde sich der Speed-Six durch seine Bewegungsenergie in derselben Richtung wie bisher weiterbewegen. Stadtauswärts. Newtons Bewegungsgesetze. Ich hielt mich bereit, gegen die eigene Bewegungsenergie anzukämpfen und einen Sprung in Gegenrichtung zu machen. Stadteinwärts. Ruckte die Revolvermündung nur zehn Zentimeter nach Norden, während ich mich zehn Zentimeter nach Süden bewegte, konnte mir nichts passieren.
    Vielleicht genügten auch acht Zentimeter.
    Oder neun, um ein kleines Sicherheitspolster zu haben.
    Die Frau fragte: »Wo haben Sie die Narbe her?«
    Ich gab keine Antwort.
    »War das ein Bauchschuss?«
    »Bombe«, sagte ich.
    Sie bewegte die Mündung etwas, von ihr aus gesehen nach links, aus meiner Sicht nach rechts. Nun zielte sie auf die unter meinem T-Shirt unsichtbare Narbe.
    Der Zug rollte weiter. In die Station. Unendlich langsam. Kaum im Fußgängertempo. Die Bahnsteige im Grand Central Terminal sind lang. Der Steuerwagen befand sich ganz am vorderen Ende. Ich wartete darauf, dass die Bremsen greifen würden. Rechnete damit, dass es einen netten kleinen Ruck gäbe.
    Dazu kam es nie.
    Die Revolvermündung bewegte sich zurück zu meiner Körpermitte. Dann zeigte sie senkrecht in die Höhe. Eine Zehntelsekunde lang glaubte ich, die Frau wolle sich ergeben. Aber die Mündung bewegte sich weiter. Mit einer stolzen, trotzigen Geste hob die Frau das Kinn und drückte die Mündung in das weiche Fleisch darunter. Betätigte den Abzug halb. Die Trommel drehte sich, und der Hammer scharrte über den Nylonstoff ihrer Daunenjacke.
    Dann zog sie den Abzug ganz durch und schoss sich selbst den Kopf weg.

6
     
    Die Türen gingen lange nicht auf. Vielleicht hatte jemand die Sprechanlage für Notrufe benutzt, oder der U-Bahnfahrer hatte den Schuss gehört. Jedenfalls entschied das System sich erst mal für eine Vollsperrung. Die hatte das Personal zweifellos geübt. Und eigentlich war dieses Verfahren vernünftig. Es war besser, einen bewaffneten Verrückten in einem Wagen einzusperren, als ihn in der ganzen Stadt herumlaufen zu lassen.
    Aber das Warten war nicht angenehm. Das Kaliber .357 Magnum wurde 1935 erfunden. Magnum heißt im Lateinischen groß . Schwereres Geschoss und weit mehr Treibladung. In Wirklichkeit detoniert die Treibladung nicht, sondern brennt schnell ab. Dabei entsteht eine riesige Blase aus heißem Gas, die das Geschoss aus dem Rohr treibt. Normalerweise tritt das Gas nach dem Geschoss aus und entzündet den Sauerstoff der Umgebungsluft. Daher das Mündungsfeuer. Aber bei einem aufgesetzten Schuss, für den die Nummer vier sich entschieden hatte, durchlöchert die Kugel die Haut, und das Gas dringt sofort nach ihr ein. Unter der Haut dehnt es sich gewaltsam aus und reißt eine riesige sternförmige Austrittswunde oder bläst alles Fleisch, alle Haut vom Schädel, der so kahl zurückbleibt, als hätte man eine Banane geschält.
    Das war in diesem Fall passiert. Das Gesicht der Frau bestand nur noch aus blutigen Fleischfetzen, die an zertrümmerten Knochen hingen. Das Geschoss war senkrecht durch ihren Mund gegangen und hatte mit seiner gewaltigen kinetischen Energie die Schädeldecke durchschlagen. Der jähe Überdruck hatte ein Ventil gesucht und dort gefunden, wo ihre Gehirnschale im Säuglingsalter zugewachsen war. Die Fontanellen waren wieder aufgeplatzt, und der Druck hatte über und hinter ihr mehrere große Knochensplitter verteilt, die an der Seitenwand klebten. Ihr Kopf war praktisch nicht mehr da. Aber die gegen Graffiti resistente Glasfaserwand erfüllte ihre Aufgabe. Weiße Knochensplitter, dunkles Blut und graue Gehirnmasse liefen über die glatte Fläche nach unten, klebten nicht fest, hinterließen dünne Kriechspuren. Die Tote war auf der Bank zusammengesackt. Ihr rechter Zeigefinger steckte noch im Abzugsbügel. Der Revolver war vom rechten Oberschenkel abgeprallt und lag jetzt auf dem Sitz neben ihr.
    Der Schussknall hallte noch immer in meinen Ohren nach. Hinter mir hörte ich gedämpfte Geräusche. Ich roch das Blut der Frau. Ich trat vor und kontrollierte ihre Tasche. Leer. Ich öffnete den Reißverschluss ihrer Daunenjacke und zog sie vorn auseinander. Wieder nichts. Nur eine
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