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Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)

Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)

Titel: Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Autoren: Lee Child
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herausziehen müssen, bevor irgendein Widerstand zu spüren gewesen wäre. Bis dahin hätte sie den Knopf gedrückt, vielleicht nur unwillkürlich aus Schock.
    Oder ich hätte ihre Daunenjacke packen und versuchen können, einige der anderen Drähte loszureißen. Aber zwischen mir und diesen Drähten befanden sich dicke Taschen mit Gänse-
daunen. Und rutschig glattes Nylongewebe. Kein Griff, kein Gefühl.
    Keine Hoffnung.
    Ich hätte versuchen können, sie außer Gefecht zu setzen. Ihr eins über den Schädel zu ziehen, sie k.o. zu schlagen, mit einer Geraden, augenblicklich. Aber obwohl ich schnell war, hätte ein wirksamer Schlag aus zwei Metern Entfernung ungefähr eine halbe Sekunde gedauert. Und sie brauchte ihren Daumen nur drei Millimeter weit zu bewegen.
    Sie wäre schneller gewesen.
    Ich fragte: »Darf ich mich hinsetzen? Neben Sie?«
    Sie sagte: »Nein, bleiben Sie von mir weg.«
    Eine neutrale, tonlose Stimme. Kein hörbarer Akzent. Amerikanisch klingend, aber sie hätte von überall her sein können. Aus der Nähe machte sie keinen wirklich gefährlichen oder geistesgestörten Eindruck. Eher einen resignierten, ernsten, verängstigten und erschöpften. Sie sah mit derselben Intensität zu mir auf, mit der sie vorhin das Fenster gegenüber angestarrt hatte. Sie wirkte völlig wach und zurechnungsfähig. Ich kam mir regelrecht durchleuchtet vor, ich konnte mich nicht bewegen, ich konnte nicht sprechen.
    »Es ist spät«, sagte ich dann. »Sie sollten die Hauptverkehrszeit abwarten.«
    Sie gab keine Antwort.
    »Noch sechs Stunden«, sagte ich. »Dann ist sie viel wirksamer.«
    Ihre Hände in der Tasche bewegten sich.
    Ich sagte: »Nicht jetzt.«
    Sie schwieg.
    »Nur eine«, sagte ich. »Zeigen Sie mir eine Hand. Sie brauchen nicht beide dort drinzuhaben.«
    Der Zug bremste scharf. Ich hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben, griff wieder nach oben und bekam einen Haltegriff zu fassen. Meine Hand war feucht. Der Metallgriff fühlte sich heiß an. Grand Central, dachte ich. Aber dort waren wir nicht. Ich schaute aus dem Fenster, weil ich Licht und weiße Kacheln erwartete, und hatte nur das schwache Leuchten einer blauen Lampe vor mir. Wir hatten im Tunnel gehalten. Bauarbeiten oder ein Signal.
    Ich drehte mich zu ihr um.
    »Zeigen Sie mir eine Hand«, forderte ich sie noch mal auf.
    Die Frau gab keine Antwort. Sie starrte meinen Bauch an. Weil ich mit erhobenen Händen dastand, war mein T-Shirt hochgerutscht und ließ über dem Hosenbund die Narbe an meinem Unterleib sehen. Weißes Narbengewebe, hart und aufgeworfen. Große primitive Stiche wie in einem Cartoon. Von Splittern einer vor vielen Jahren in Beirut hochgegangenen Lastwagenbombe. Ich war hundert Meter vom Nullpunkt entfernt gewesen.
    Der Frau auf der Sitzbank war ich achtundneunzig Meter näher.
    Sie starrte mich weiter an. Die meisten Leute fragen, woher ich die Narbe habe. Ich wollte nicht, dass sie das auch tat. Ich wollte nicht über Bomben reden. Nicht mit ihr.
    Ich sagte: »Zeigen Sie mir eine Hand.«
    Sie fragte: »Wieso?«
    »Sie brauchen nicht beide dort drin.«
    »Was hätten Sie davon?«
    »Weiß ich nicht«, antwortete ich. Ich hatte keine rechte Vorstellung davon, was ich tat. Ich habe keine Erfahrung in Verhandlungen mit Geiselnehmern. Ich redete um des Redens willen, was sehr untypisch für mich war. Normalerweise bin ich eher schweigsam. Statistisch gesehen wäre es äußerst unwahrscheinlich, dass ich mitten im Satz sterben würde.
    Vielleicht redete ich deshalb.
    Die Frau bewegte ihre Hände. Ich sah, dass sie mit der Rechten etwas in der Tasche festhielt, bevor sie langsam die linke Hand herauszog, schmal, blass, kaum sichtbar mit Sehnen und Adern überzogen. Nicht mehr junge Haut. Unlackierte Fingernägel, kurz geschnitten. Keine Ringe. Nicht verheiratet, nicht verlobt. Sie drehte die Hand, um mir die andere Seite zu zeigen. Die leere Handfläche war gerötet, weil ihr heiß war.
    »Danke«, sagte ich.
    Sie legte die Linke mit der Handfläche nach unten auf den benachbarten Sitz und ließ sie dort liegen, als hätte sie nichts mit dem Rest ihres Körpers zu tun. Was in diesem Augenblick fast zutraf. Der Zug stand weiter im Dunkel. Ich ließ die Hände sinken. Der Saum meines T-Shirts rutschte wieder nach unten und verdeckte die Narbe.
    Ich sagte: »Zeigen Sie mir jetzt, was Sie in der Tasche haben.«
    »Wozu?«
    »Ich möchte es nur sehen. Was immer es ist.«
    Sie gab keine Antwort.
    Sie bewegte sich nicht.
    Ich sagte: »Ich
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