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Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Oberschenkelauf dem Boden lag. Die Hand lag da und bewegte sich zuckend und klirrend hin und her wie ein kleines verletztes Tier, und die Klinge des Messers schabte über die Steinkacheln, am Rand einer Blutlache, die sich unter Keo ausgebreitet hatte.
    Klirrschabklirrschabklirrschabklirrschab.
    Kopf und Schultern des Jungen ruhten in Pieters’ Schoß, die nackten Beine lagen verkrümmt da, wie die einer Puppe. Die Wunde über Keos Herz, ein kleiner, klatschmohnroter Krater im Weiß der bemalten Brust, blutete nicht mehr. Das meiste Blut kam aus einem langen, kreisrunden Schnitt, der sich zwischen der Stirn und dem Haaransatz um den Schädel zog.
    Pieters sah auf, und Van Leeuwen musste sich Mühe geben, um ihn wiederzuerkennen. Es sah aus, als hätte der Arzt eine schlecht gefertigte Maske übergestülpt, eine Maske aus feucht glänzender Haut und schlaffen Muskeln, mit strähnigem Haar, das ihm in die sorgenzerfurchte Stirn fiel, und mit einem merkwürdig verzerrten Mund.
    »Ich kann es nicht«, sagte Pieters leise. Er sah zu Van Leeuwen auf, und das Messer in seiner Hand hörte nicht auf, hin und her zu schaben auf dem blutigen Kachelboden, mechanisch wie ein eingeschalteter Scheibenwischer.
    Klirrklirrklirrschabschabschab.
    »Ich kann es nicht«, sagte Pieters. »Ich kann es nicht. Ich kann es nicht.«
    Erst jetzt fiel dem Commissaris der linke Arm des Jungen auf, der halb von Pieters’ Oberschenkel verdeckt wurde. Das Handgelenk fehlte. Er hatte sich geirrt, das meiste Blut kam nicht von dem Schnitt unter der Kopfhaut. Es kam von dem Arm. Er suchte die Hand, aber sie lag nirgendwo auf dem Boden.
    Sein Blick wanderte wieder zum Backofen hinüber, und erst jetzt
entdeckte er, dass die bläulichen Flämmchen unter einer Bambus‑
schale flackerten. Die Schale war nicht sehr groß, nicht groß genug
für einen ganzen Arm oder auch nur für einen Fuß. Aber vor dem
Herd standen andere, größere Gefäße aus Ton und Bambus bereit.
Mit leeren Augen sah Pieters zu Van Leeuwen auf. Einen Momentlang schienen sie etwas zu sehen, etwas in Van Leeuwen, etwas, das eine Erinnerung auslöste. Van Leeuwen beobachtete die Augen, sah ihren Ausdruck wechseln und wieder wechseln, und plötzlich wusste er, was Pieters suchte, und er wusste auch, dass Pieters es nicht mehr finden würde, nie mehr, solange er lebte.
    »Ich habe es ihm versprochen«, sagte Pieters und schaute Van Leeuwen weiter unverwandt an, ohne ihn zu sehen. »Ich wollte ihn beerdigen ... Er hätte es getan, er hat alles für mich getan ... Ich habe es versucht ... aber ich schaffe es nicht ... Ich habe es versucht ... aber ich schaffe es nicht ... Ich habe es versucht ... aber ich schaffe es nicht ... Ich schaffe es nicht ...«

 35 
    Der erste Schnee fiel spät in diesem Jahr, einen Tag nach Weihnachten. Simone stand am Fenster des Schlafzimmers und sah zu, wie der Schnee sich auf dem Fensterbrett sammelte, dann ging sie ins Wohnzimmer, um von dort aus zuzuschauen, wie das teerschwarze Wasser der Gracht die tanzenden Flocken verschluckte. Wieder und wieder ging sie zwischen den Räumen hin und her, und nur wenn Van Leeuwen ihr wieder ein Kleidungsstück anziehen wollte, blieb sie kurz stehen.
    Am Nachmittag holte er ihren Koffer aus der Kammer, kippte den Inhalt in einen großen Karton und legte den Koffer dann auf das ungemachte Bett. Das Pflegeheim hatte ihm eine Liste der Dinge geschickt, die Simone mitbringen sollte. Er suchte das meiste davon zusammen und packte es ein, und er dachte, dass er ihr die anderen Sachen mitbringen konnte, wenn er sie das erste Mal besuchen fuhr.
    »Fahren wir weg ?«, fragte Simone.
    »Ja.«
    »Wohin fahren wir ?«
    »Überraschung«, sagte er.
    Eine Zeit lang hielt sie der fallende Schnee noch davon ab, sichGedanken über das Wegfahren zu machen, aber dann wurde sie unruhig und fing an, weitere Kleidungsstücke aus dem Schrank zu nehmen und in den offenen Koffer zu legen. Sie zog ihre Strümpfe aus und legte sie dazu. Sie holte einen Teller mit Kastanien, Tannenzapfen und einem getrockneten Seestern, um auch das im Koffer zu verstauen.
    »Wenn du meinst, du brauchst das«, brummte Van Leeuwen.
    Es schneite den ganzen Tag, abwechselnd leicht wie zarter Pollenflug oder stark in dichten, schweren Flocken. Die Äste der Ulmen an der Gracht hoben sich wie Tuschezeichnungen vom Weiß der Umgebung ab. In den Fensterwinkeln hatten sich Reifblumen auf dem Glas gebildet, und wenn eine Fallbö am Haus vorbeifegte, zerstäubte sie die
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