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Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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verloren gegangen, aber zum Glück gab es den Club, und da würde sie später sein, genau wie alle anderen, mit ihm. Er schluckte wieder und merkte, dass er Durst hatte. Er schluckte auch, weil er Tic vor sich sah, wie sie auf der Straße getanzt hatte, wie ein Delphin, der aus der Musik springt und sich wieder hineinfallen lässt, und er dachte, du darfst keine Angst haben . Er war einem berittenen Polizisten begegnet, noch gar nicht lange her, wovor solltest du also Angst haben ?
    Überall saßen oder lagen Leute, manche in Schlafsäcken, er konnte die Glut ihrer Joints sehen und die Flammen ihrer Feuerzeuge und hier und dort eine Wunderkerze. Er stolperte über ein Fahrrad, das jemand mitten auf der Wiese liegen gelassen hatte, und als er weiterging, schwankte er wieder. Nicht gut . Er musste gerade gehen, an einen, der gerade geht, trauen sie sich nicht so schnell heran . Er blieb stehen. Er lauschte. Er hielt die Luft an, um sich zu konzentrieren.
    Er wurde das Bild einfach nicht los, den Anblick. Die Kammer mit den ganzen Handtüchern und Bettlaken, die er gestern in der Klinik aus Versehen betreten hatte, und das, was darin geschehen war. Seitdem ließ ihn das Gefühl nicht mehr los, dass sie ihn zum Tod verurteilt hatten. Während des Raves hatte er es vergessen, aber jetzt war es wieder da. Sie hatten ihn gesehen, und deswegen musste er sterben.
    Der Wind raschelte in den Blättern einer Kastanie, deren Krone sich vor dem roten Himmel abzeichnete.
    Der Junge hörte ein Geräusch. Es war ein anderes Geräusch, lauter als das Rascheln in der Kastanie und näher als die Musik, sogar lauter als das Summen in seinen Ohren. Er stand da und spürte, wie ihm etwas über die Haut strich, und jetzt hast du doch Angst. Das Geräusch – ein Knacken und dann ein merkwürdiges Zischen oder Fauchen – wiederholte sich, stärker, und es war irgendwie mehr als nur ein Laut, eine dunkle Bewegung, etwas, das neben ihm durch das Gebüsch lief. Er dachte, wenn er nicht hinschaute, wäre es nicht da, so wie auf einmal nichts mehr da war, kein berittener Polizist, keine herumliegenden Fahrräder, keine Leute an Feuern oder in Schlafsäcken. Er war gegangen und gegangen, und jetzt gab es niemanden mehr, der ihn sehen würde, und niemand würde ihn hören.
    Seine Lunge schien kaum noch zu funktionieren, die Luft wehrte sich, wenn er sie anhalten wollte. Sein Herz übertönte alles andere, das Rascheln der Blätter oder die fernen Bässe, die Trommeln. Der Junge stand da, und der Rausch fiel von ihm ab, und er wünschte sich, er könnte Tic noch einmal berühren, nur ganz kurz. Sie hätte jetzt bei ihm sein müssen; das ganze Elend im Leben kam, weil man sich immerzu trennte und dann allein war, alles blieb irgendwie unfertig. Er dachte so heftig an sie, dass er sie spüren konnte, ihre Hand in seiner, klein und trocken, selbst wenn sie stundenlang getanzt hatte. Ihre kalte Nase, wenn sie den Mund gegen seine Wange drückte, um ihm einen Kuss zu geben. Ihre Haut, die an manchen Stellen ganz heiß war, als hätte sie da Fieber, und woanders kühl und glatt wie eine Muschel am Strand.
    Er machte einen Schritt, langsam, noch einen, dann blieb er plötz lich wieder stehen. Er hörte es, wenn er ging, und wenn er stehen blieb, hörte er es nicht mehr. Er wollte etwas sagen oder rufen, aber er wusste nicht, was. Auf einmal fühlte er sich matt, kraftlos. Es gab so viel Dunkelheit auf der Welt, dunkle Parks, dunkle Zimmer. Und dunkle Menschen. Er hätte gewettet, dass es im Dunkeln sehen konnte. Was immer ihm da folgte, es konnte ihn sehen.
    Er wusste plötzlich, dass er nie mehr fertig werden würde, nicht so, wie er es sich immer gewünscht hatte. Er wusste es. Er starrteauf die Stelle im Gebüsch, wo er die Bewegung gesehen hatte, und ohne es zu merken, zog er eine Hand aus der Hosentasche, schob den Ärmel des Sweatshirts hoch und tastete nach dem Tattoo am linken Arm, Tic und ein dreiblättriges Kleeblatt, wahrscheinlich ziemlich kitschig.
    Sie hatte genau so ein Tattoo, nur ohne seinen Namen, innen am Schenkel. Manchmal nahm sie seine Hand und legte sie auf die Stelle, fühl mal, und er tat, als könne er es fühlen, es war eine von den kühlen Stellen, aber sie wurde heiß, während seine Hand darauf lag. Weiter war er noch nicht gekommen.
    Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt – warum fiel ihm das jetzt ein, dieses blöde deutsche Kinderlied, das er nur einmal im Fernsehen gehört hatte ? Seine Mutter sang schon
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