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Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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lange nicht mehr, meistens summte sie nur vor sich hin, Opernzeug, sie kümmerte sich um nichts, ignorierte ihn, so wie früher sein Vater. Aber dafür gab es ja die Pillen, sie lagen einfach so da, zum Mitnehmen. Du wirst nie mehr geweckt, nie mehr, er starrte ins Gebüsch, bis vor seinen Augen alles körnig und flimmerig wurde.
    Obwohl er nicht weitergegangen war, setzte das Geräusch wieder ein, ein Knacken, schnelle Tritte. Es rannte, es rannte auf ihn zu, nein, es sprang. Lauf , dachte er, lauf weg !
    Langsam hob er einen Fuß, vielleicht konnte er noch fliehen, obwohl der Strauch neben der Kastanie sich gerade teilte und etwas heraussprang, es sprang heraus und auf ihn zu, es kam so schnell näher, in großen Sätzen, dass er nicht mehr weglaufen konnte. Er sah es nur ganz kurz, körnig und flimmerig, ein Wesen mit eisweißer Haut, schlank wie er selbst, die Augen weit aufgerissen, er sah die weißen Zähne und, als es ganz nah war, eine flache, breite Nase mit zwei weißen Knorpeln rechts und links.
    Es schlug ihn, ein Knüppel sauste auf ihn zu, traf ihn hart an der Stirn, hart und trocken und dumpf. Er fiel hin, und den zweiten Schlag spürte er schon nicht mehr so stark, er merkte nur noch, wie ihm das Blut kitzelnd in die Augen lief und die Gestalt sich über ihn beugte und ihn packte und mit sich ins Gebüsch zerrte, keuchend und schnell.
    Das Letzte, was er sah, bevor die Zweige über ihm zusammenschlugen, was er durch das Blut sah, waren die nackten Beine, die sich auf seine Brust knieten, aber sie waren nicht wirklich weiß, sondern angemalt wie mit Kreide und darunter schwarz, nachtschwarz. Die Hände, die nach seiner Kehle griffen und zudrückten. Das Gesicht dicht vor seinem Gesicht, Augen, Mund, die Knorpel über den Lippen wie von einem Hühnchenknochen, und er dachte, warum tust du das, warum, und dann fiel ihm Tic wieder ein, die in seinem Herzen schlug und bei ihm war, bis sie langsamer wurde und stehen blieb. Tic. Tic. Tic.
    Der unfertige Junge war endlich fertig.

 2 
    Bruno van Leeuwen betrachtete den toten Jungen am Fuß der Kastanie und spürte, wie sich sein Magen hob, als hätte die Erde unter seinen Füßen auf einmal ein Stück nachgegeben. Sein Herz geriet aus dem Rhythmus, schlug einmal heftiger, hielt inne, schlug noch zweimal zu hart und fand wieder zu sich. Er sah hinauf in den Baum, dann in den Park. Er roch Rauch, ohne ein Feuer zu entdecken. Es war ein feiner, etwas beißender Geruch, der ihn an seine Jugend erinnerte, an die Kartoffelernte auf dem Land.
    Van Leeuwen wusste, dass er wieder hinsehen musste; er brauchte nur eine andere Perspektive, etwas umfassender und nicht so, als gäbe es nur ihn und den toten Jungen. Der Wind fuhr ihm in den offenen Trenchcoat und bis unter den Anzug, sogar bis unters Hemd. Die Haut auf seinem Rücken zog sich zusammen.
    »Mein Gott«, sagte jemand hinter ihm. Die Stimme gehörte Hoofdinspecteur Ton Gallo. Die anderen sagten nichts, sondern verrichteten schweigend ihre Arbeit innerhalb der Absperrung – die Leute von der Spurensicherung in ihren weißen Overalls mit Mundschutz und Plastikhaube, der Polizeifotograf, der Arzt. Sie waren schon länger da und hatten Zeit gehabt, sich an den Anblick zu gewöhnen, und trotzdem sagte keiner von ihnen ein Wort.
    Hinter der Absperrung standen zwei Streifenwagen, rot-weißblau, und eine Ambulanz, rot-weiß-orange, neben der die Sanitäter warteten, außerdem ein Kleinbus von einem Fernsehsender mit einem Kamerateam. Rechts und links von den Fahrzeugen hielten uniformierte Streifenpolizisten die Schaulustigen zurück: bleiche, übermüdete Jugendliche in verrückten Kostümen, Spaziergänger, Männer und Frauen und Kinder mit Fahrrädern, zwei Müllmänner in orangefarbenen Overalls, ein Jogger in einem Trainingsanzug aus Fallschirmseide. Der Jogger führte einen angeleinten Rottweiler mit sich, der in seinen Maulkorb hechelte.
    Überall zwischen den Bäumen und Sträuchern lagen noch der Müll vom Koninginnedag und die Überreste des Flohmarkts im niedergetretenen Gras: rote Coladosen, hellblaue Mineralwasserflaschen, Plastikbecher, Pizzakartons, McDonald’s-Schachteln. Zerrissene Zeitungen, die sich im Wind bauschten. Packpapiertüten, dazwischen Kippen und blinkende Kronkorken und die matt glimmenden Scherben von Bierflaschen. Der Müll erstreckte sich bis zum Ende des Parks, wo Van Leeuwen seinen Alfa geparkt hatte, und weiter über die Straßen und Grachten des Zentrums bis zum Hafen.
    Sirenen
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