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Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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war, aber das störte ihn nicht, weil ihr Lächeln gleich blieb all die Jahre, und auch ihr Blick. In diese großen braunen Augen hatte er sich vor über dreißig Jahren als Erstes verliebt, und er hatte immer gewusst, dass sie sich nie verändern würden, und so war es gekommen, er sah die Augen und das Lächeln und darin die Frau, die er geheiratet hatte, als sie beide jung gewesen waren.
    Wenn er den Schlüssel ins Türschloss schob und aufsperrte, wartete sie schon im Flur der großen Altbauwohnung, in dem steten Zwielicht, das die Blätter der Ulmen vor den Wohnzimmerfenstern im Sommer noch hereinließen. Er trat auf den Läufer hinter der Türschwelle, und da stand sie und zögerte den winzigen Moment lang, den sie brauchte, um ihn wiederzuerkennen, bevor sie lächelte.
    »Hallo«, sagte er in dem ruhigen Tonfall, den sie mochte, »ich bin’s.« Er legte den Schlüsselbund auf die kleine Rosenholzkommode neben der Tür. »Wo ist Ellen ?«
    Simone antwortete nicht. Sie trug das knöchellange blaue Kleid, das sie am liebsten hatte, keinen Gürtel und weder Strümpfe noch Schuhe. »Was hast du mir mitgebracht ?«, fragte sie mit einer Stimme, die hell wie die eines Kindes klang.
    Van Leeuwen griff in die Tasche und holte eine Muschel heraus, hielt sie ihr hin, als wollte er ein Tier locken. Sie kam näher, be trachtete die Muschel und nahm sie von seinem Handteller. »Schön«, sagte sie. Sie griff nach seiner Hand und zog ihn hinter sich her. An ihrem linken Gelenk glänzte ein dünnes Armband mit einer Metallplakette, auf der ihr Name, ihre Adresse und seine Telefonnummer im Präsidium standen.
    »Wann ist Ellen gegangen ?«, wollte er wissen, während er ihr gehorsam ins Wohnzimmer folgte. Im Fernsehen lief ein Zeichentrickfilm ohne Ton. Van Leeuwen spürte plötzlichen Zorn, nicht auf seine Frau, sondern auf die Pflegerin, die sie schon wieder entgegen seiner Anweisung allein gelassen hatte.
    »Nn – nn«, summte Simone, »nn – nn.«
    Das Wohnzimmer war der größte Raum der Wohnung, über dessenEinrichtung im Frühling und Sommer stets ein grüner Schimmer lag, so überwältigend färbten die Kronen der mäch tigen Ulmen vor den drei Fenstern ihren eigenen Schatten. Auf den Bodendielen lag ein dunkelroter Orientteppich, die Fransen voller Staubflocken. Hohe Bücherregale und zwei große Gemälde verbargen die ehemals gelb gestrichenen Wände, keine Meisterwerke, nur handwerklich solide gefertigte Landschaften, eine Insel vor stürmischem Meer und Häuserruinen unter einem erloschenen Vulkan; Erbstücke von Simones Onkel.
    Nicht einmal die Lampe mit ihrem Schirm aus hauchdünn geschliffenen und zinngerahmten Muschelschalen am Plafond, die den ganzen Tag über brannte, machte den Raum heller. Das Schattenmuster des Zinngeflechts vergitterte den Couchtisch und die Polstergarnitur, die abgegriffenen Bücherrücken, die nie zugezogenen Vorhänge. Nachts, wenn die Gaslampen unter den Fenstern brannten, zappelten an der Zimmerdecke kleine Lichtreflexe von den Wellen der Gracht.
    Simone führte Van Leeuwen zum selten abgewischten Fensterbrett, auf dem Suppenteller voll mit Bucheckern, alten Nüssen und Tannenzapfen aus den vergangenen Jahren standen. Es gab andere Teller, mit Steinchen, Zigarettenstummeln, Knöpfen. Lächelnd beugte Simone sich über einen der Teller und legte die Muschel dazu. Jeden Abend, wenn Van Leeuwen heimkam, fragte sie: »Was hast du mir mitgebracht ?«, und wenn er mit leeren Händen vor ihr stand, wurde sie traurig. Auch wenn die Trauer nur von kurzer Dauer war, brach sie ihm das Herz.
    Und jeden Abend führte sie ihn an dieses Fensterbrett, dessen weiße Lackierung abzublättern begann, zu ihren Schätzen, als hätte er sie noch nie gesehen, und er redete mit ihr. Sie mochte den Klang seiner Stimme, auch wenn sie nicht mehr verstand, was er sagte. Heute sagte er: »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es da draußen zugeht. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich eben gesehen habe.«
    »Lieb«, sagte sie. Er betrachtete ihren schlanken Hals, die Grübchen in den Wangen, die kleine, zarte Nase, in die er sie früher sogern gebissen hatte. Er dachte daran, wie sie ihm oft entgegengelaufen war, an ihr atemloses Lachen, an die von Freude und Glück gerötete Stirn und an die Handtasche, die sie einfach fallen ließ, wo sie stand, wenn sie ihn küssen und umarmen wollte.
    Jetzt konnte sie ihren Blick nicht von ihren Schätzen lösen. Sie berührte eine Eichel auf einem der Teller, ein
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