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Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall

Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall

Titel: Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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warten, bis gegen Morgen auch die schwächeren Sterne wieder auftauchten; er lernte, dass man sich verirren konnte, wenn alle Lichter hell leuchteten wie Neon, und dass man manchmal nur einen einzigen Stern brauchte, um sich wiederzufinden.
    Dann verliebte er sich in Amsterdam, nicht ganz so schnell wie Sim, aber bald danach. Sim war von Anfang an ihr eigener heller Stern gewesen. Sie war nicht verloren gegangen, hatte sich nicht verirrt, kannte keine Angst, damals noch nicht. Sie hatte ihm von ihrem Mut abgegeben, so viel, wie er brauchte, um seine Arbeittun zu können. Manchmal war er es gewesen, der Angst bekommen hatte, wenn wieder ein Mädchen vergewaltigt und ermordet in einer Blutlache aufgefunden wurde; wenn der nächste Junge mit einer Spritze im Arm zusammengekrümmt auf dem Boden eines schäbigen Zimmers lag. Wenn eins der müden Herzen zu schlagen aufgehört hatte.
    An solchen Tagen war er am Abend nach Hause gekommen und hatte ihr davon erzählt, und sie hatte zugehört und ihn gehalten, bis er nicht mehr reden musste. Am nächsten Morgen ging er los und spürte den Mörder des Mädchens auf und legte dem Dealer des Jungen das Handwerk, damit die Stadt schön blieb. Die Stadt, die sie liebten, weil es ihr Amsterdam war.
    Deswegen war jedes tote Mädchen seine Tochter; jeder ermordete Junge war sein Sohn. Nur heute Nacht nicht. Heute Nacht hatte er eine Frau, die tot war. Er hörte eine Sirene, die weit unter ihm an-und abschwoll, und diesmal betraf es ihn nicht. Er sah einen Polizeihubschrauber, der ganz weit hinten am Ende der Lichter über der Centraal Station kreiste, wo vielleicht gerade ein Verbrechen begangen worden war, aber auch das hatte keine Bedeutung. Er war hier mit seiner toten Frau. Auf seinem Gesicht spürte er den warmen Wind, der immer noch stetig vom Ijsselmeer landeinwärts wehte. Er dachte daran, wie kalt derselbe Wind im Januar gewesen war, dachte an das dichte Schneetreiben, als Sim zum letzten Mal hier neben ihm gestanden hatte. Wie die Angst für einen Moment von ihr abgefallen war, weil sie sich plötzlich erinnern konnte, daran, was diese Stadt da unten einmal für sie gewesen war, für sie beide: eine Schatztruhe.
    Man kam hierher voller Träume und voller Hoffnungen, auf der Suche nach dem Zauber, der aus den Träumen Wirklichkeit werden ließ. Manchmal ließ die Schatztruhe sich nicht sofort öffnen, gab ihren Zauber nicht jedem preis. Dann konzentrierte man die Hoffnung darauf, zu überleben, bis es so weit war, bis man die Truhe fand oder den passenden Schlüssel. Und manchmal besorgte man sich andere Träume, für die man mit Geld oder sogar mit seinem Leben bezahlte.
    Denn Amsterdam hatte zwei Gesichter, die man beide lieben musste. Tagsüber war es ein verspieltes, buntes Puppenhaus in einem Tulpenpark, durch den echte Menschen gingen, stets bereit zu einem schnellen Lächeln, einem schnellen Geschäft. Nachts verwandelte das Puppenhaus sich in eine wahnwitzige, kreischende Drehorgel, bekränzt mit bunten Glühbirnen, die immer wieder dasselbe Lied spielte und dabei mit flackernden Lichtern im Kreis herum rollte. Nachts schien die Schatztruhe näher, der passende Schlüssel schneller gefunden.
    Aber es waren die Träume, mit denen die Stadt ihre beiden Gesichter schminkte. Und selbst wenn es die Truhe gar nicht gab, lag doch ein Zauber über den Grachten und Brücken, den kleinen Plätzen und Cafés, den Märkten, Kirchen und Parks, und zu jeder Stunde wehte mit dem Wind leise das Lied der Drehorgel durch die raschelnden Blätter der Ulmen. Für manche war Amsterdam das Ende, aber für die meisten war es ein neuer Anfang.
    Im Süden, wo die ganze Nacht hindurch Schweißbrenner flackerten und Dampframmen stampften, zuckte jetzt ein Blitz vom Himmel. Der Wind roch plötzlich frisch, nach Salz und Regen und einer Spur von Ozon. Van Leeuwen merkte, wie etwas von seinem Herzen genommen wurde. Er hatte viel verloren, aber nicht alles. Er brauchte auch nicht in seine Wohnung zu fahren.
    Als er sich umdrehte, stellte er fest, dass sein Alfa inzwischen fast allein auf dem Parkdeck stand. Er öffnete die Fahrertür, setzte sich halb auf den Fahrersitz und schaltete den Radiorekorder an. Er legte eine Kassette ein, die bei Simones Sachen aus dem Heim gewesen war. Es war eine alte Kassette mit alten Liedern, alles, was sie früher gern gehört hatten, als sie selbst noch nicht alt gewesen waren. Er drückte den Play -Knopf. Aus den Lautsprecherboxen drang die helle, traurige Stimme
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