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Und meine Seele ließ ich zurueck

Und meine Seele ließ ich zurueck

Titel: Und meine Seele ließ ich zurueck
Autoren: Jérôme Ferrari
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ich sie bräuchte. Er hat mir die Hand geschüttelt. Alles ist so belanglos, mon Capitaine, alles ist so schnell vergessen. Das Blut der Unsrigen und das Blut, das wir verbreitet haben, es ist seit Langem von einem neuen Blut abgelöst worden und dieses wird seinerseits bald schon wieder abgelöst werden. Ich habe in der Frische des Jasmins Zeitungen gelesen. Siebzehn Zöllner in Timimoun abgeschlachtet. Drei in Sétif geköpfte Polizisten. Zwischen Bechar und Taghit ein ganzes Hochzeitsgefolge an einer Scheinabsperrung abgestochen. Alles ist so belanglos. Die Jungverheiratete hieß vielleicht Samia oder Rym oder Nardjess. Wer erinnert sich ihrer? Unsere Handlungen bedeuten nichts, mon Capitaine, aber Sie sind zu hochmütig, um dies zu akzeptieren. Sehen Sie es denn nicht? Unsere Handlungen haben keinerlei Gewicht, mon Capitaine, sie zählen kein bisschen, mag sein, dass einst eine Menschengattung existierte, die darum wusste, diejenigen, die die Jungverheirateten abgestochen hatten, wussten es vielleicht noch, aber wir, wir sind empfindsam geworden, uns gelingt es nicht mehr, unsere Handlungen von uns zu scheiden, schlicht und einfach wie Scheiße, und wir vergiften uns, unsere Handlungen vergiften uns, wir ersticken an der Leugnung oder Rechtfertigung, und in diesem Punkt gleiche ich Ihnen in gewissem Sinne, mon Capitaine, selbst wenn mir dies kein Grund zur Freude ist, hätte ich Ihnen nicht geglichen, hätte ich meinen Handlungen keine besondere Bedeutung zugemessen, ich wäre der OAS nicht beigetreten, ich wäre zu mir nach Hause gefahren und hätte an etwas anderes gedacht. Aber was soll man machen, im allgemeinen Vergessen erinnere ich mich an alles, mon Capitaine, ich erinnere mich sehr genau. Man kann ohne Erinnerung nicht loyal sein und, ich habe es Ihnen bereits gesagt, ich bin loyal. Ja, mon Capitaine, von uns beiden bin ich es, der die Republik verraten hat, und dennoch bin ich derjenige, der sich loyal verhielt. Ich rede Ihnen hier nicht vom ewigen Frankreich, der Unversehrtheit der Nation, der Ehre der Waffen oder der Flagge, all diese albernen Abstraktionen, von denen Sie glaubten, dass Sie Ihr Leben auf ihnen errichtet hatten, ich rede hier von konkreten und zerbrechlichen Dingen, die uns anvertraut waren, das Schreien der Huren von Si Messaoud, die Tränen meines Seminaristen, das kleine, idiotische Lachen der jungen Mädchen der Milk Bar, das Lied von Belkacem, dem Harki, den Sie und Ihresgleichen 1962 dem Tod überantwortet haben, im Namen ihres merkwürdigen Pflichtgefühls, ich rede Ihnen von all dem, was Sie verraten haben, und zwar ohne die geringste Seelenregung dieses Mal, und dem allein ich meine Loyalität schulde, wobei es unwichtig ist schlussendlich, dass alles in die Tiefen des Vergessens gerissen wird. Aber Ihnen ist die Welt gleichgültig, mon Capitaine, und Sie verfaulen in der abgestumpften Kontemplation der außergewöhnlichen Tragödie, die Ihnen zu leben auferlegt wurde, und Sie fragen sich noch immer, wie es möglich ist, dass Sie zu einem Henker und Mörder geworden sind. Oh, mon Capitaine, das eben ist ja die Wahrheit, nichts ist unmöglich: Sie sind ein Henker und ein Mörder. Sie können nichts daran ändern, selbst wenn Sie noch immer unfähig sind, es zu akzeptieren. Die Vergangenheit verschwindet im Vergessen, mon Capitaine, aber nichts vermag sie zu sühnen. Niemand mehr sorgt sich um Sie, abgesehen von Ihnen selbst. Die Welt weiß nicht mehr länger, wer Sie sind, und Gott gibt es nicht. Niemand wird Sie bestrafen für das, was Sie getan haben, niemand wird Ihnen die Erlösung zusprechen samt Bestrafung, die Ihr Hochmut verlangt. Ihre Gebete sind vergeblich. Haben Sie denn wirklich nichts begriffen? Sind Sie so unabänderlich von Blindheit geschlagen? Sie haben nichts Außergewöhnliches erlebt, mon Capitaine, die Welt ging mit Männern wie Ihnen immer schon verschwenderisch um und kein einziges Opfer hatte es je als besonders schwierig empfunden, sich bei der geringsten Veränderung der Umstände in einen Henker zu verwandeln. Rufen Sie es sich ins Gedächtnis, mon Capitaine, das ist eine harte Lektion, hart und endgültig, die Welt ist alt, so alt, mon Capitaine, und die Menschen besitzen doch kaum Gedächtnis. Das, was sich in Ihrem Leben abspielte, es hat sich in ähnlichen Szenen bereits schon einmal abgespielt, unzählige Male sogar, und das Jahrtausend, das sich ankündigt, verspricht nichts Neues. Das ist kein Geheimnis. Wir besitzen doch kaum Gedächtnis. Wir
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