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Und meine Seele ließ ich zurueck

Und meine Seele ließ ich zurueck

Titel: Und meine Seele ließ ich zurueck
Autoren: Jérôme Ferrari
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vergessen, und auch Sie, ich weiß es, werden mich nicht vergessen können, denn irgendwo habe ich gelesen, ich erinnere mich sehr genau, dass man das Schicksal derer, die uns geliebt haben, immer mit ihnen teilen muss, und die Liebe, die ich Ihnen entgegengebracht habe, ist vielleicht reiner und treuer als jene, mit der Ihre Eltern Sie umgeben haben, Ihre Frau und Ihre Kinder und all jene, die geglaubt haben, Sie zu lieben. Ihre Verachtung wiegt nicht mehr als die meine, mon Capitaine, sie ist ohne jede Macht gegenüber der Kraft dieser Liebe, die ich nie aus meinem Herzen herausreißen konnte, an das sie sich klammerte wie ein vor Lebenskraft nur so strotzendes Unkraut, und inzwischen weiß ich, dass nichts sie je tilgen wird. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viel einfacher es für mich wäre, schlichtweg Ihr Feind zu sein, als die Tyrannei dieser Liebe ertragen zu müssen, die mich an Sie bindet. Ich verstehe, dass Sie nichts mit ihr zu tun haben wollen, dass sie Ihnen Grauen bereitet, aber erinnern Sie sich, mon Capitaine, auch ich hatte keine Wahl, und falls Sie noch fähig sind zur Ehrlichkeit, dann müssen Sie wohl oder übel zugeben, dass außer mir niemand den Menschen geliebt hat, der Sie in Wirklichkeit sind, denn in Wahrheit hat Sie niemand außer mir wirklich gekannt. Sie wissen es nur zu gut, weder Ihre Frau noch der Junge, den Sie aufgezogen, noch das Mädchen, das Sie so unbesonnen gezeugt haben, kennen Sie wirklich, und ich bin mir sicher, dass Sie sich häufig gefragt haben werden, was denn von deren Liebe bleiben würde, sollten sie, und sei es nur für eine Sekunde, den Menschen erblicken, der Sie in Wirklichkeit sind, und dass Sie sich anstrengen mussten, ihnen diesen Menschen all die Jahre über zu verhehlen, stets der Angst ausgesetzt, dass man ihn schließlich doch entdecken könnte, ich würde darauf schwören, mon Capitaine, dass Sie lieber mit der Angst gelebt haben und dem Stillschweigen, als sich der Zerbrechlichkeit ihrer Liebe auszusetzen. Ich aber kenne Sie, mon Capitaine, ich kenne Ihre maßlose Feigheit, ich kenne den Geschmack des Grolls, der Ihnen den Mund verbrannt hat, und Ihre Irrwege, Ihre Lügen, ich kenne die Grenzenlosigkeit Ihrer Schwäche, Ihren unlöschbaren Durst nach Bestrafung, ich kenne Ihre Schuldgefühle, denn ich bin Ihr Bruder, erinnern Sie sich, wir sind von derselben Schlacht gezeugt worden, unterm Monsunregen, und nie habe ich aufgehört, Sie wie einen Bruder zu lieben. Oh, ich kenne Ihre geheimen Träume, mon Capitaine, ich kenne sie so gut, dass ich in gewissen Nächten das Gefühl habe, Sie träumten in mir, es sei denn, dass ich es bin, der mich im Traum an Ihre Seite geschlichen hat, in welchem wir weit weggebracht wurden von der unfruchtbaren Erde meiner Kindheit, diese Erde, die nicht mehr die meine ist und die Ihre nie war, und wir gehen beide auf einer langen Wüstenstraße, zwischen Taghit und Bechar, im Schein einer Mondsichel, die wie eine Straßenleuchte gelb im sternlosen Himmel hängt, wir gehen inmitten von im Sand halb vergrabenen Gegenständen, die den Boden um uns herum so weit das Auge reicht bedecken, Pumps mit zerbrochenen Absätzen, zerrissene Kleider, an deren Stoffen der Wüstenwind die Farben ausgeblichen und die Stickereien aus Goldfäden herausgerissen hat, eine kaputte Darbuka, ein Oud ohne Saiten, geschwärzte Schmucktrauben, Kajal- und Hennaschatullen, Damenwäsche aus Satin und einzelne Geschirrteile, Glücksbringer für Armbänder, eine komplette Aussteuer, die ganz allmählich zu versteinern begann in der Stille meiner Erinnerung, seit jene, die sie zusammengestellt hatte, zu Staub zerfallen war, eine Ewigkeit ist dies her, mon Capitaine, und der Wind, der noch immer so stark weht, lässt die blutleeren Überreste nicht einmal mehr erzittern. Dort blicken Sie sich um, aber niemand, den Sie suchen, ist anwesend, kein kleines Mädchen spielt im Sand, kein kleiner Junge, Ihre Frau wartet nirgendwo auf Sie, und der Mann, den Sie Ihr Leben lang hofften, wiederzusehen, er wird Ihnen nicht entgegenkommen, Sie versuchen, seinen Namen in die Nacht zu brüllen, aber Sie haben keine Stimme und niemand kann Sie hören. Nur ich bin da, mon Capitaine, und ganz in unserer Nähe ein junges Dromedar, das unablässig nach seiner Mutter ruft und dabei seinen Hals unter dem Mond ausstreckt, uns jedoch nicht sehen kann, da eine gütige Hand es geblendet hat, es sollen doch unsere in der Finsternis funkelnden Wolfsaugen zu keiner Zeit mehr
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