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Und manche liebe Schatten steigen auf

Und manche liebe Schatten steigen auf

Titel: Und manche liebe Schatten steigen auf
Autoren: Carl Reinecke
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vierhändigen Arrangement und sagte zu mir: „Kommen Sie, Reinecke, die wollen wir einmal zusammen spielen.“ Und wir spielten sie zusammen von Anfang bis Ende, und es dauerte volle dreiviertel Stunden; den Hörern wäre es lieber gewesen, er hätte fünf Minuten allein gespielt.
     
     

H. W. Ernst
     
     

   Ernst war, als er zum ersten Male meine Lebensbahn kreuzte, schon längst einer der berühmtesten Geiger, obgleich er erst neunundzwanzig Jahre zählte. Für seine Zeit war er ungefähr das, was heute Sarasate ist, nur mit dem Unterschiede, dass dem letzteren zur Zeit eine Unmenge von Rivalen erwachsen sind, während zu jener Zeit wohl nur Vieuxtemps und Ole Bull sich eines gleichen Rufes wie Ernst erfreuten. Spohr und Paganini waren vom Schauplatz abgetreten, der Stern von Joachim und den Schwestern Milanollo waren eben im Aufgehen begriffen, Bazzini aber, Lafont und Sivori hatten wenigstens in Deutschland noch nicht die gleiche Berühmtheit wie Ernst erlangt. Es war daher kein Wunder, dass ich, im Frühjahr 1843 auf der Reise von Altona nach Kopenhagen begriffen, kaum in Kiel angekommen, mich sofort ins Konzert im Saale der Harmonie begab, um Ernst zu hören, dessen Konzertanzeige ich gelesen hatte. Ernst war Virtuose im eigentlichen Sinne des Wortes und machte keinen Hehl daraus, dass er durch seine, freilich auch blendende Virtuosität auf die Menge wirken wollte, wie es zu jener Zeit seitens fast aller Virtuosen mit einer gewissen Naivität geschah. Man konnte damals von Clara Wieck noch Variationen von Herz oder Phantasien von Thalberg hören, ebenso wie der dreizehnjährige Joachim damals noch mit Vorliebe die Othellophantasie von Ernst spielte. Ernst selbst überwand nicht nur die haarssträubendsten Schwierigkeiten mit Eleganz und Humor, sondern er adelte sie auch, ähnlich wie Liszt, durch den Geist, mit dem er sie zu durchsetzen wusste, während er andererseits die Melodie mit einer herzerquickenden Innigkeit und je nach Erfordernis mit einer wunderbaren Glut vorzutragen wusste. Begreiflicherweise entflammte er das Publikum zu enthusiastischem Beifall, dem ich mich mit der vollen Hingabe der Jugend anschloss. Aber es war mir seltsam zumute, als ich da den großen Künstler in seiner Vollkraft, im Strahlenkranze seines Ruhms und von allen umjubelt sah, und dann auf mich selber herunterblickte, der ich auf dem Wege war, um mir in Kopenhagen von König Christian VIII. ein Stipendium zu erbitten, welches mir mein ferneres Studium ermöglichen sollte. Während ich so über die Verschiedenheit der Situationen grübelte, trat ein eleganter Kavalier zu mir heran und fragte mich, ob ich der sei, für den er mich halte, der Klavierspieler Reinecke aus Altona. Ich musste das natürlich bejahen, und da richtete er denn an mich einen Auftrag von der im Konzerte anwesenden Herzogin von Glücksburg aus, welcher dahin lautete, dass ich etwas vortragen möge, da sie mich zu hören wünsche. Vergebens stotterte ich, dass ich nicht begreife, wie ich zu der Ehre komme, von Ihrer Hoheit gekannt zu sein, vergebens wies ich auf meinen Reiseanzug hin, vergebens darauf, dass ich dem Konzertgeber gänzlich fremd sei. Der Hofkavalier entgegnete mir, dass die Gräfin Plessen der Herzogin meine Ankunft in Kiel mitgeteilt habe, dass man auch im Reiseanzug Klavier spielen könne, und dass er selbst mich dem „Herrn Ernst“ vorstellen werde. Was blieb mir übrig, nachdem die Formalitäten vorüber waren, als mich an den Flügel zu setzen und zu spielen? Dass ich das Mendelssohnsche G-moll Konzert mit Haut und Haaren herunterspielte, war gewiss ein sonderbarer Einfall von mir, aber mir fiel in diesem Augenblicke eben nichts anderes ein. Immerhin trug er mir freundliche Worte von Ernst ein und – was mich ganz besonders beglückte – eine Einladung, ihn am nächsten Morgen zu besuchen. Die Morgenstunden des kommenden Tages schlichen mir nur allzu langsam dahin, denn ich konnte die Zeit kaum erwarten, wo ich mit Anstand meinen Besuch machen durfte. Endlich stand ich aber doch in Ernsts Zimmer, ward freundlich willkommen geheißen und nach kurzem Verweilen aufgefordert, mit ihm zu musizieren. Ernst zeigte mir die soeben aus Leipzig angekommenen, fast noch feuchten Exemplare der zwölf Pensées fugitives von Stephen Heller und Ernst, welche später als überaus feine Salonstücke sehr viel gespielt wurden und auch heute noch nicht vergessen sind. Da ich von meinem Vater stets zum „vom Blatte spielen“ oder, wie der
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