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Taken

Taken

Titel: Taken
Autoren: Erin Bowman
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1. Kapitel
    Nach dem heutigen Tag werde ich meinen Bruder nie mehr wiedersehen.
    Ich sollte diese letzten Stunden mit ihm verbringen, stattdessen liege ich auf einer Wiese und sehe einer Krähe zu, die am Kadaver eines halb gefressenen Wildschweins herumpickt. Der Vogel ist ein schmutziges Wesen: klitschige schwarze Federn und ein Schnabel, der aussieht wie ein geölter Knochen. Wenn ich wollte, könnte ich ihm den Hals umdrehen, mich anschleichen und seine zerbrechlichen Knochen zwischen meinen Handflächen zermalmen, bevor er mich überhaupt hören würde. Aber das würde nichts ändern. Einem kleinen Vogel das Leben aus dem Körper zu quetschen, wird meinen Bruder auch nicht retten. Blaine ist verdammt seit dem Tag seiner Geburt.
    Genau wie ich. Genau wie alle Jungen in Claysoot.
    Abrupt stehe ich auf. Mit meiner Bewegung habe ich die Krähe erschreckt, die sich rasch in das frühmorgendliche Licht erhebt. Ich schieße ihr einen Pfeil nach und verfehle sie, größtenteils mit Absicht. Die Wahrheit ist, dass ich nicht besser bin als die Krähe. Ich nehme, was ich kann, und horte jedes Fetzchen Fleisch, das unsere Leute ernähren wird. Wenn meine schwarzen Haare Federn wären, würden sie vielleicht noch stärker schimmern als das dunkle Federkleid des Vogels.
    Von dem Wildschwein ist nicht viel übrig. Der Kadaver ist ausgehöhlt, Tiere haben sich an seinem Bauch gütlich getan. Ein Hinterbein scheint noch intakt zu sein, aber da sind zu viele Fliegen. Ich möchte nicht, dass jemand krank wird. Es ist das Risiko nicht wert. Besonders heute nicht. Das Letzte, was wir am Abend eines Raubs gebrauchen können, sind noch mehr Stress und Sorge.
    Ich schultere erneut mein Bündel, und meine Füße tragen mich wie von selbst zurück zum Wald. Meine Stiefel kennen den Weg. Während ihre Ledersohlen sich in vertraute Fußwege eindrücken, denke ich an Blaine. Ich frage mich, was er in diesem Moment wohl tut, ob er ausschläft und sich an den Resten eines sorglosen Traums festhält. Aber ich vermute nicht. Zu viel Bedrohliches liegt vor ihm. Als ich vor Sonnenaufgang in die Wälder aufgebrochen bin, lag er noch im Bett, aber selbst da hat er im Schlaf vor sich hingemurmelt.
    Der Morgen in den Wäldern hat mir nur zwei Wachteln eingebracht, aber die werden für das Mittagessen mehr als ausreichen. Blaine wird wahrscheinlich nicht viel essen wollen. Der Raub verschlägt den Leuten den Appetit, besonders dem Jungen, der Geburtstag hat. Achtzehn ist alles andere als ein Meilenstein, den man feiert, und wenn es Mitternacht wird, dann wird Blaine gegen seinen Willen seinem Schicksal begegnen. Er wird vor unseren Augen verschwinden, genau wie alle Jungen, wenn sie achtzehn werden. So gut wie tot. Mir graut seinetwegen, aber ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich mich nicht auch meinetwegen zu Tode ängstige. Blaine wird heute Abend achtzehn, und das bedeutet, dass ich nur dreihundertvierundsechzig Tage später ebenfalls achtzehn werde.
    Als wir jünger waren, hat es Spaß gemacht, zusammen Geburtstag zu haben. Ma schenkte uns, was sie erübrigen konnte: ein geschnitztes Boot, eine Mütze aus gewebtem Stoff, Eimerchen und Schaufeln aus Metall. Wir rannten durch die Stadt und machten alles zu unserem Spielplatz. Manchmal war es die Treppe, die zum Ratsgebäude hinaufführt, dann wieder waren es die Tische in der Klinik, jedenfalls bis Carter Grace uns fluchend und mit in die Hüften gestemmten Händen verjagte. Unsere Possen machten uns in der ganzen Stadt bekannt. Wir waren die Weathersby-Brüder, die Jungen, die an diesem grauen Ort viel zu viel Lebensfreude hatten. Diese Lebensfreude währte natürlich nicht ewig.
    In Claysoot wird man schnell erwachsen.
    Als ich das Ende des Jagdpfades erreiche und den Wald verlasse, ist es Nachmittag. Ich komme an zwei Jungen vorbei, die an einem kleinen Feuer spielen, während ihre Mutter Wäsche an eine dünne Leine hinter ihrem Haus hängt. Einer ist noch sehr jung, vier oder fünf vielleicht. Der andere kann noch nicht älter als acht sein. Im Vorbeigehen lächle ich der Mutter zu. Sie versucht das Lächeln zu erwidern, aber ihre Grimasse ist alles andere als überzeugend. Sie wirkt gealtert, niedergedrückt, obwohl ich vermute, dass sie nicht älter als fünfundzwanzig ist. Ich weiß, dass es an den Jungen liegt. Bestimmt vergeht kein Tag, an dem sie sich nicht wünscht, sie wären Mädchen, wenigstens einer von ihnen.
    Vor dem Ratsgebäude treffe ich Kale. Sie spielt auf der
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