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Und im Zweifel fuer dich selbst

Und im Zweifel fuer dich selbst

Titel: Und im Zweifel fuer dich selbst
Autoren: Elisabeth Rank
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eins ist in der Wäsche, das weiß ich. Ich hab seine Zahnbürste und ein paar Bücher und ein Deo von ihm und den Schlüssel zu seiner Wohnung.« Sie schloss die Augen und fiel nach hinten aufs Bett. »Aber was soll ich denn mitnehmen, wie soll ich denn entscheiden, was es wert ist, mitgenommen zu werden, und was nicht. Was ist, wenn ich etwas mitnehme und es das Falsche war?« – »Du hast noch Zeit«, sagte Vince und öffnete das Fenster. »Ja, das hab ich auch gedacht«, flüsterte Lene, richtete sich wieder auf und klappte die Deckel der Kartons zu.

    Die Sonne schien durch die Blätter der Linde, als wir uns verabschiedeten. Auf dem Tisch im Wohnzimmer standen noch ein paar Teller mit Resten, und Tims Mutter hielt eine leere Schüssel im Arm, während sie langsam durch die Zimmer schritt, als suche sie jemanden, als wolle sie schauen, obsie auch niemanden vergessen hatten, ob wirklich alle gegangen waren. Sie trug die Schüssel wie ein Baby, bis ihr Mann kam und sie ihr abnahm, bis er ihre Finger von dem Porzellan löste und die Schüssel in die Küche brachte. Albert hatte die Musik ausgemacht, für einen Moment standen wir alle nur so da und sahen einander an. Tims Mutter wischte sich mit den Handgelenken Schweiß aus der Stirn, draußen fuhren Autos vorbei, Kinder lachten. Tims Mutter weinte, als wir die Treppen hinunter gingen und Albert die Tür schloss, wir hörten sie noch ein Stockwerk tiefer und dann irgendwann nicht mehr. Im Rinnstein floss das Wasser bergab, auf den Blättern der Büsche neben dem Bürgersteig lagen dicke Tropfen. Lene ging wieder zwischen uns, wir machten unsere Schritte langsam und versuchten, nicht auf die Linien der Gehwegplatten zu treten. »Bist du müde?«, fragte ich sie, ihr Unterarm an meinem. »Ja«, sagte sie. »Sollen wir dich zu deinen Eltern bringen?«, fragte Vince hinterher. »Nein«, sagte Lene – und ich fragte mich, wieso ich sie eigentlich nicht auf der Beerdigung gesehen hatte, wieso Lene dort allein hingekommen war. »Die warten bestimmt schon«, sagte sie, »aber ich komme erst später.« Und sie klang, als sei das ein großer Schritt, auch wenn es nur ein kleiner Versuch war, ein Stück Kontrolle zu behalten, irgendetwas selbst zu bestimmen. Sie war unruhig, sie schaute sich ständig um, als fühlte sie sich beobachtet, manchmal stockte sie kurz im Gehen oder kramte in ihren Haaren. Aber das war nicht sie selbst, das war jemand anders, der diese Unruhe machte, jemand, der dünne, durchsichtige Fäden an ihre Arme gebunden hatte und daran zog.
    Vince kaufte Getränke am Bahnhofskiosk, wir stiegen in die S-Bahn und fuhren zurück. Als wir am Treptower Park ausstiegen, blieb Lene kurz an der Bahnsteigkante stehen, wo man auf den Fluss und den Kirchturm sehen kann. Die Sonne kam eben wieder hinter einer dicken Wolke hervor, die Spree sah aus, als würde sie dampfen und glitzern zugleich. Wir mussten noch durch die Unterführung, es stank, und als wir wieder hervorkamen, begannen die Kirchenglocken hinter den Bäumen am anderen Ufer zu läuten. Wir folgten dem asphaltierten Weg durch den Park und waren fast allein nach dem Regen. Ein Jogger kam uns entgegen, von irgendwoher roch es nach Vanille. Die vorbeirasenden Autos auf der großen Straße hörte man kaum, und die Schwäne drückten sich an den Böschungen herum. Die Tischtennisplatte sah ein bisschen verloren aus, denn niemand lag auf der Wiese daneben. »Neulich habe ich einen Kapitän gesehen«, sagte Lene, als wir die zweite Anlegestelle hinter der Brücke erreichten. »Ein alter Mann mit einem weißen Bart wie ein Weihnachtsmann im Sommer, er stand am Heidelberger Platz auf der Treppe zwischen S- und U-Bahn. Ich kam von der Uni und mit mir noch tausend andere und er sah so hilflos aus zwischen diesen Menschenmassen und bewegte sich nicht. Er wurde herumgeschoben, weil er nicht wusste, wohin. Ein paar beschwerten sich über ihn, weil er keine Anstalten machte, sich für eine Richtung zu entscheiden, er sah ernsthaft so aus, als habe er Angst, die falsche zu wählen. Und ich war kurz davor, ihn zu fragen, ob ich ihm helfen könne. Denn der hatte irgendwie das Schiff noch unter den Füßen, der hatte ja sogar eineKapitänsmütze auf dem Kopf, so eine blaue mit Schirm. Und der Bahnhof bewegt sich ja nicht wie ein Schiff, da hat er geschwankt. Das passiert doch, wenn man so lange auf See war und dann wieder Festland betritt. Du gehörst nicht hierher, habe ich gedacht. Und dann kam meine Bahn.«
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    Wir
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