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Und im Zweifel fuer dich selbst

Und im Zweifel fuer dich selbst

Titel: Und im Zweifel fuer dich selbst
Autoren: Elisabeth Rank
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fahren. Ich begriff erst, als er mir zunickte. Auf unserem Weg kippte ich die Sitzlehne so weit zurück, dass ichbeinahe auf dem Rücken lag. Schornsteine und Bäume, Himmel und Wolken, Straßenschilder und Oberleitungen flogen vorbei, und ich wagte nicht, die Augen zu schließen, ich hoffte insgeheim, einfach nicht anzukommen, so wie in den letzten Tagen.
    Aber dann hielt Friedrich, und als ich mich aufrichtete, sah ich das Tor zum Friedhof ein paar Meter entfernt und eine Menschentraube davor mit weißen Hemden und schwarzen Bügelfaltenhosen und in die Stirn gekämmten Ponys. Wir stiegen aus und am liebsten wäre ich einfach vorbeigegangen, hätte kein Gesicht erkannt und erleichtert aufgeatmet nach einem kurzen Seitenblick. Ich wäre gern eine Fremde gewesen, dann hätte ich weitergehen können auf dem schmalen Bürgersteig entlang und an der Bushaltestelle vorbei bis ans Ende der Straße, zu der Wiese, über die man noch gehen muss, um direkt am Wasser zu stehen, die im Herbst so dicht mit bunten Blättern bedeckt ist, dass alles darunter liegen könnte, man würde es nicht erkennen. Vielleicht hätte ich mich hingesetzt und ein Buch gelesen, einen älteren Herren in Badehose mit seinem Motorboot vorbeifahren sehen, und irgendwann hätte ich die Kapellenglocken läuten gehört und mich gefragt, wie spät es wohl sei. Ich hätte keine Uhr dabei gehabt. Und wäre irgendwann nach Hause gegangen mit einem roten Gesicht von der Sonne, die dann schon hinter den Bäumen und dem Riesenrad verschwunden wäre. Vielleicht wären mir die frischen, sattgrünen Kränze aufgefallen mit den blendend weißen Schleifen, aber die Aufschriften hätte ich aus der Entfernung nicht lesen können. Vielleicht hätten noch ein paar Trauergästean der Bushaltestelle oder dem Parkplatz gestanden. Sie wären mir fremd gewesen, und ich hätte überlegt, was ich später essen würde. Ich hätte mir keine Sorgen gemacht, denn es wären wie immer die anderen gewesen. Irgendjemand. Nicht wir.

    Rot, gelb, grün, blau, lila und grau fiel das Licht durch die kleinen Glasquadrate des Kirchenfensters auf den gekachelten Boden. Ein paar bunte Flecken lagen auf den Bankreihen, ein Surren und Flüstern hing in der Luft. Im Bauch der Kirche war es kalt. »Wie lange dauert so was eigentlich?«, fragte ich und drehte mich um in der Annahme, Friedrich sei hinter mir. Aber ich fragte ins Leere, denn er stand noch an der großen, schweren Holztür und schaute nach draußen. Es war auch egal eigentlich, es dauerte so lange, wie es dauern musste, von mir aus eine Woche.
    Und dann stand er da. Ein schmaler, dunkelbrauner Sarg, auf dem ein großer, geflochtener Kranz lag. Und außer mir sah niemand hin. Alle versuchten, den Blick über die Empore wandern zu lassen, über die bunten Fenster. Neben Tims Sarg hatte man ein vergrößertes, gerahmtes Photo aufgestellt, das Lene während unseres Schwedenurlaubs gemacht hatte. Er lachte breit, seine Haare wurden vom Wind durcheinander gewirbelt, wir hatten am Hafen gesessen und Milchshakes getrunken auf den schmalen Planken der kleinen Stege, wo die Boote lagen.
    Lene kam in die Kirche. Ich erkannte sie erst, als sie mit den Fußspitzen beinahe gegen meine stieß. Sie war blass,hatte die Haare streng zurückgebunden. Sie legte ihre Hände auf meine Schultern und lehnte ihren Kopf an meinen Kopf, unsere Stirnen aneinander. Dann ging sie nach vorne und nahm ihren Platz in der ersten Reihe direkt neben Tims Eltern ein, als hätte sie das vorher geübt. Sie ging nicht zu schnell und nicht zu langsam, sie senkte den Kopf, als sie ganz vorne angekommen war und sich zwischen Vince und die Mutter von Tim setzte. Friedrich und ich nahmen in einer der hinteren Reihen Platz, und ich schaute auf all diese Köpfe, als gehörte ich nicht dazu.

    Die meisten Leute, die etwas sagten oder eine Rede hielten, kannte ich nicht. Tims Bruder Albert hatte ich schon einmal gesehen, ich konnte mich nicht mehr genau erinnern, wo. Als er seinen vorletzten Satz beendet hatte, fiel ihm eine Träne aufs Jackett, das sah man auch von ganz hinten noch. Und die starren Nacken seiner Eltern, die alle Kraft verwenden mussten, um gerade sitzen zu bleiben. Auch das Aufstehen am Ende fiel ihnen schwer, jede Bewegung hinter dem Sarg her, der hinausgetragen wurde und dem alle folgten. Das Dröhnen der Orgel, das Rauschen des Windes in den Blättern der Bäume, das Geräusch von Wasser, und hinter all dem der ferne Lärm der Stadt, all die Füße und Beine in
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