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Und im Zweifel fuer dich selbst

Und im Zweifel fuer dich selbst

Titel: Und im Zweifel fuer dich selbst
Autoren: Elisabeth Rank
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ihrem schweren Gang, all die verschwitzten Hände und Wangen, die roten Augen und unsicheren Blicke, die Strähnen, die an den Gesichtern klebten. Man berührte sich flüchtig, wie um sich der Gegenwart der anderen zu vergewissern, aber nie länger als eine Sekunde. Am Grab dannsah ich, wie Lenes Schultern sich zwischen all den anderen hoben und senkten. Tims Vater mit seinem schütteren Haar neben der ausgehobenen Grube, als fiele er jeden Moment einfach auseinander, als seien seine Glieder nur lose aneinander gehängt worden. Die Hand seiner Frau ließ er nicht los. Ein Kopf kleiner stand sie neben ihm wie eine Porzellanfigur, unbewegt und starr schaute sie geradeaus zwischen die Bäume und all die anderen Gräber, manchmal zuckten ihre Augenlider. Ihre Arme hingen herunter, als hielte sie Steine in den Händen. Wir alle standen unter Birken, jemand redete, manchmal übertönt vom Wind. Es gab dann noch jemanden mit einer Geige und einem Korb mit Zettelchen, auf die jeder zum Abschied etwas schreiben konnte. In seinen Hosentaschen bewegte Friedrich seine Daumen auf und ab, ich sah die ständige Bewegung im Augenwinkel. Als etwas Kaltes meine Hand berührte, erschrak ich. Lene stand plötzlich neben mir, ihr Gesicht glänzte, als habe sie Fieber. Mit geschlossenen Augen warteten wir in der dritten Reihe, und als ich die Augen wieder aufmachte, waren ihre noch zu. Sie hörte nur, wie man den Sarg langsam hinabließ, sie hörte nur, wie die ersten Leute nach vorne traten und Blumen oder die kleinen, weißen Zettel hineinwarfen. Manche sanken auf die Knie und behielten Grasflecken zurück, andere bewegten lautlos die Lippen, manche schauten nur. Lene sah nicht, wie Tims Vater zwei Zettel in die Hand nahm und versuchte, sie nicht zu werfen, sondern eher zu legen, dass das Loch dafür aber zu tief war. Sie sah nicht die zitternden Arme von Albert, die den Korb hielten. Und sie sah das Motorboot nicht, das auf der Spree an uns vorbeifuhr.Die Menge lichtete sich, und irgendwann standen nur noch Albert und Vince dort. Ich drückte Lenes Hand, woraufhin sie die Augen öffnete, ganz langsam, ganz vorsichtig. Aber wir waren alle noch da, niemand war verschwunden, es hatte kein neues Leben begonnen. Es war immer noch nicht vorüber. Meine Hand berührte Lenes Rücken, sie machte ein paar Schritte nach vorn und ging zum Rand des Grabes. Ihre Finger klammerten sich in den Stoff ihres Kleides, zogen ein paar Falten zusammen und ließen sie wieder fallen. Dann setzte sie sich und ich konnte sie weinen hören. Albert stellte den Korb neben ihr ab und trat wieder einen Schritt zurück, eine Schweißperle lief mir über das Schulterblatt. Lene winkte Albert zu sich und dann hockten sie beide auf dem Boden. Ihren Kopf legte sie auf seine Schulter, und dann wurden wir wieder zum Standbild, zur Momentaufnahme, bis Lene sich rührte und Albert etwas entsetzt ansah. Ich brauchte eine Weile, um zu merken, dass er weinte. Wir sahen nicht, wie hinter uns graue Wolken aufzogen, wie der Himmel sich verdunkelte. Wir standen nur und schauten, und als Lene einen Zettel aus dem Korb nahm, kamen die ersten Tropfen herunter. Sie schrieb etwas auf das Papier, und Vorder- und Rückseite genügten nicht, also nahm sie noch einen Zettel aus dem Korb und schrieb, während Albert ihr seine Jacke um die Schultern legte. Am Ende hatte sie acht Zettel auf dem Schoß, die sie ineinander legte und so klein faltete, wie es nur ging. Sie warf sie hinein, und dann stand sie auf, die große Jacke über den Schultern und mit glänzendem Gesicht. Wir warteten wieder, niemand traute sich, den ersten Schritt oder die ersteBewegung zu machen, aber dann ging sie einfach los, an den Nachbargräbern vorbei, immer darauf bedacht, keine Pflanzen zu zertreten, auf dem kleinen Trampelpfad zu bleiben, der zwischen den Parzellen hindurch zum großen Weg führte. Als der Weg wieder breiter wurde, legte Vince den Arm um meine Schulter. Draußen vor dem Tor standen noch ein paar Trauergäste, die aufhörten zu reden, als Lene kam. Die verschämt auf den Boden sahen. Als Lene die Stille bemerkte, hob sie ihren Kopf wieder. Sie hob ihn, drehte sich zu uns um und winkte uns heran. »Wir fahren jetzt nach Hause«, sagte sie. Friedrich, der schon vor einer Weile vorausgegangen war, wartete im Wagen.

    Der Hausflur erinnerte mich an den meiner Großtante, die am anderen Ende der Stadt wohnte. Wir waren nicht oft dort gewesen, aber wenn, dann ging ich immer besonders langsam die Treppen
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