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Und im Zweifel fuer dich selbst

Und im Zweifel fuer dich selbst

Titel: Und im Zweifel fuer dich selbst
Autoren: Elisabeth Rank
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und ich nicht an einer Bushaltestelle in der Pampa sitze und diese Nachricht nicht löschen kann, obwohl mich die Frau da das auch schon zehnmal gefragt hat. Ich kann’s nicht. Das ist doch der ganze Rest.«
    Hitze stieg von meinen Wangen in meine Stirn. Ich war zu spät. Es würde nichts bringen zu versuchen, jeden Morgen vor Lene aufzuwachen. Wie hält man das aus: aus Versehen eine Nachricht vom eigenen Freund zu hören, dergerade gestorben war. Ich hatte immer gedacht, so was könne gar nicht passieren. Uns jedenfalls nicht.

    Dort, wo das kleine Stück Himmel zu einer großen blauen Fläche mit weißen Schlieren geworden war, wo eine gerade Linie den Wald von einem Feld trennte, wo es leicht bergauf ging, holte ich Lene ein. Sie war losgerannt, barfüßig auf dem Asphalt. Und von hinten sah sie ein bisschen aus wie ein bockiges Kind mit den verstrubbelten Haaren, ohne Schuhe und dem Kleid, das als roter Fleck in der Landschaft hin und her wippte. Ich packte sie an der Schulter, drehte sie um und legte meine Arme um sie. Ihr zierlicher Körper bebte und zuckte, als spannte sie jeden Muskel an, und schlimmer war, dass sie wimmerte und etwas sagte und Rotz und Wasser heulte und ich nichts verstand. Sie stampfte mit den Füßen auf, knickte den Oberkörper ein, als wehre sie sich gegen sich selbst, warf ihre Arme umher, an deren Enden ihre geballten Fäuste hingen. Ihre Zehen krallten sich in die raue, trockene Erde, sie wand sich aus meinen Armen. Ich versuchte sie festzuhalten, heulte auch, und wir müssen seltsam ausgesehen haben, nicht miteinander kämpfend, aber doch ringend um Luft und Fassung. Da begann Lene, Erdklumpen vom Boden aufzuheben und weit auszuholen, sie warf und schrie und fiel zwischendurch von ihrem eigenen Schwung auf den Boden. Als sie sich aufrappelte, waren ihre Knie nicht mehr rot, sondern braun, und ich erinnerte mich an ein Foto von ihr, das ich in einem Fotoalbum gesehen hatte auf dem großen, pompösen Sofa im Wohnzimmerihrer Eltern. Die Bilder waren sorgfältig eingeklebt, und eines davon zeigte Lene als kleines Mädchen mit zwei senkrecht vom Kopf abstehenden Zöpfen. Sie hatte gerade ihre Milchzähne verloren und stand in einem gelben Florida-T-Shirt und einer kurzen Hose in einer riesigen Matschpfütze auf dem Hof ihrer Großeltern, neben ihr ein Huhn. Zahnlos und stolz grinste sie in die Kamera, die dreckigen Hände wie zwei kleine Pokale weit von sich gestreckt, die mit Schlamm beschmierten Knie ordentlich durchgedrückt und den Bauch nach vorn gestülpt. »Schmutzfink« hatte ihre Mutter in Schönschrift und mit einem dicken i-Punkt neben das Bild geschrieben. Diese Mädchenschrift hat Lene von ihr, die dicken O’s und A’s und die i-Punkte, die eher Kringel waren und mit denen man sie in der Pubertät so wunderbar aufziehen konnte, weil sie sich immer eine schräge, grazile Schrift gewünscht hatte. Sie übte eine Zeit lang jeden Tag dafür, schaute sich Schriften von anderen ab, hielt aber nie lange durch. Irgendwann hörte sie auf damit, auf jeder Postkarte aus dem Urlaub ein Spektakel an Schriftübungen zu veranstalten, und malte von nun an einfach noch ein paar mehr Kringel rund um den Text, damit die i-Punkte nicht mehr so auffielen. Jetzt stand sie mit staubigen Füßen und Schienbeinen da und konnte nicht mehr, aber wenigstens war sie nicht mehr ganz so blass. Wir gingen zurück zum Wagen, sie setzte sich auf den Beifahrersitz, ihr oder mein Bauch machte ein lautes Geräusch. Als wir zurück auf die Straße fuhren, holperte es, die Kiesel knirschten unter den Autoreifen. Lene hatte die Augen geschlossen, als ich nach kurzer Zeit an einer Tankstelle hielt.Ich parkte, atmete zweimal ein und aus und strich ihr dann ein paar Haare aus dem Gesicht. Sie öffnete die Augen nicht, sagte aber: »Geh schon mal vor. Ich komm gleich nach.« Den Autoschlüssel zog ich ab und ließ ihn auf meinem Sitz liegen. Wind wehte, ein paar Jugendliche saßen auf einer Stufe vor den Toiletten der Raststätte. Vor ihnen rannte ein Dackel hinter einem roten Wollfaden her, den ein Junge in der Hand hielt. Am Halsband des Dackels war eine kleine Glocke befestigt, die bimmelte, wenn der Hund in der Kurve einen Satz machte. Ich registrierte alle Bewegungen in meinem Blickfeld mechanisch und nur halb, sortierte sofort nach wichtig und unwichtig, behielt die vorgegebene Strecke bei, Bereitschaft war jetzt meine Aufgabe, ich musste wach, aufmerksam und flexibel sein. Einfach da. Die Autobahn rauschte
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