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Und hinter dir die Finsternis

Und hinter dir die Finsternis

Titel: Und hinter dir die Finsternis
Autoren: Mary Higgins Clark
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Kirchenbänken zu Boden fallen und vergrub in Vogel-Strauß-Taktik mein Gesicht in den Händen.
    An den Stimmen erkannte ich, dass ein Mann und eine Frau die Kapelle betreten hatten. Ihr aufgebrachtes und zorniges Flüstern hallte von den nackten Wänden wider. Ihr Streit drehte sich um Geld, etwas, was mir wohlvertraut war. Meine Großmutter schimpfte oft mit meinem Vater und hielt ihm vor, wenn er weiter so trinke, würden er und ich bald kein Dach mehr über dem Kopf haben.
    Die Frau verlangte Geld, und der Mann erwiderte, er habe ihr bereits genug gegeben. Daraufhin sagte sie: »Es ist das allerletzte Mal. Ich schwöre es dir«, worauf er antwortete:
»Das behauptest du jedes Mal. Es ist immer das alte Lied.«
    Ich bin sicher, dass meine Erinnerung an diese Worte korrekt ist. Seit ich alt genug war, um zu begreifen, dass ich, anders als meine Freunde im Kindergarten, keine Mutter hatte, hatte ich meine Großmutter angebettelt, mir alles von ihr zu erzählen, auch die kleinste Einzelheit, derer sie sich entsinnen konnte. Unter all dem, was sie mir erzählte, war auch die Erinnerung an einen Auftritt meiner Mutter in der Theateraufführung an der Highschool, bei der sie ein Lied mit dem Titel »Es ist immer das alte Lied« gesungen hatte. »Ach, Annie hat das damals so wunderbar gesungen. Sie hatte wirklich eine schöne Stimme. Alle haben lange geklatscht und ›Zugabe, Zugabe‹ gerufen. Sie musste es noch einmal singen.« Dann hatte mir meine Großmutter die Melodie vorgesummt.
    Nach der Bemerkung des Mannes konnte ich nichts mehr von dem verstehen, was gesprochen wurde. Ich hörte nur, dass die Frau flüsterte: »Vergiss es nicht«, bevor sie die Kapelle verließ. Der Mann hatte sich nicht gerührt. Ich hörte ihn erregt schnaufen. Dann begann er ganz leise die Melodie des Liedes zu pfeifen, das meine Mutter in der Schulaufführung gesungen hatte. Heute glaube ich, dass er sich damit vielleicht selbst beruhigen wollte. Nach ein paar Takten brach er ab und verließ die Kapelle.
    Ich wartete noch eine Weile, die mir wie eine Ewigkeit erschien, dann schlüpfte auch ich hinaus. Ich huschte die Treppe hinunter und rannte aus dem Haus. Natürlich habe ich meinem Vater nie erzählt, dass ich in der Kapelle gewesen war und was ich dort gehört habe. Doch die Erinnerung an dieses Ereignis ist nie verblasst, und ich bin mir heute noch über den Wortlaut dessen, was ich damals gehört habe, ganz sicher.
    Wer diese Leute waren, weiß ich nicht. Jetzt, zweiundzwanzig Jahre danach, ist es wichtig, das herauszufinden. Fest steht nur, nach allem, was ich über jenen Abend erfahren
habe, dass es eine Reihe von Übernachtungsgästen im Herrenhaus gab sowie fünf Haushaltshilfen und die örtliche Catering-Firma mit ihrer Mannschaft. Doch dieses Wissen könnte sich als nicht ausreichend erweisen, um meinen Mann zu retten; vorausgesetzt, er hat es überhaupt verdient, gerettet zu werden.

1
    MEINE KINDHEIT STAND IM Zeichen der Entführung des Lindbergh-Babys.
    Damit meine ich, dass ich in Englewood, New Jersey, geboren und aufgewachsen bin. Im Jahr 1932 wurde der Enkel von Englewoods bekanntestem Einwohner, Botschafter Dwight Morrow, gekidnappt. Außerdem traf es sich, dass der Vater des Babys der damals wohl berühmteste Mann auf der ganzen Welt war, Colonel Charles Lindbergh, der als Erster im Alleinflug den Atlantik überquert hatte, in seiner einmotorigen Maschine, der Spirit of St. Louis .
    Meine Großmutter, die damals acht Jahre alt war, kann sich gut an die Schlagzeilen erinnern, an die Massen von Reportern, die sich vor Next Day Hill drängten, dem Anwesen der Morrows, und an die Verhaftung von Bruno Hauptmann und den nachfolgenden Prozess.
    Viel Zeit ist seitdem vergangen, Erinnerungen sind verblasst. Heute ist das Herrenhaus der Carringtons das bekannteste Anwesen von Englewood, jenes schlossartige Gebäude aus Naturstein, in das ich mich als Kind heimlich eingeschlichen hatte.
    All diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich zum zweiten Mal in meinem Leben das Eingangstor zum Carrington’schen Anwesen passierte. Zweiundzwanzig Jahre, dachte ich und sah das neugierige sechsjährige Mädchen
vor mir, das ich damals gewesen war. Vielleicht weil ich daran denken musste, dass mein Vater nur wenige Wochen später von den Carringtons entlassen worden war, fühlte ich mich mit einem Mal befangen und unbehaglich. Der freundliche Oktobermorgen war in einen windigen, feuchten Nachmittag umgeschlagen, und ich bereute, dass
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