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Und die Ratte lacht - Roman

Und die Ratte lacht - Roman

Titel: Und die Ratte lacht - Roman
Autoren: Persona Verlag
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noch nicht einmal sich selbst erzählen sollte. Und wenn sie manchmal versuchte, ein Aufflackern der Erinnerung herbeizurufen, wehrte sich ihr Gedächtnis und verweigerte die Mitarbeit. Nur wenn sie abgelenkt war, jenseits der Selbstbeherrschung, wurde sie gestochen, ungerufen tauchten die Stacheln auf und zwangen sie tief hinein in die Geschichte.
    *
    Ich war ein Kind.
    Es war nicht meine Wahl, geboren zu werden.
    Vermutlich war ich glücklich. Ohne dass sich diese Frage je gestellt hätte, natürlich. Kinder stellen sich nie die Frage nach ihrem Glück.
    Was möchtest du wissen?
    Wozu soll das gut sein?
    Warum ausgerechnet jetzt?
    Mit diesen Fragen versucht die alte Frau, das Unvermeidliche zu verhindern. Aber die Enkelin gibt nicht auf. Sie beharrt auf Antworten.
    Die alte Frau sucht hartnäckig nach einem möglichen Anfang, einem, der den Fortgang nicht gefährdet.
    *
    In ihren Augen hat die Geschichte keine besondere Bedeutung für andere, auch nicht zu diesem späten Zeitpunkt. Es gibt viele ähnliche Geschichten, und manche von ihnen wurden schon erzählt. Sie glaubt nicht, dass ihre Geschichte wichtiger ist.
    Im Gegenteil: Sie ist überzeugt, dass diese Geschichte sich wehrt, dass sie sich selbst zerstört, und dass sie bei dem Versuch, ihre eigene Hässlichkeit zu verbergen, zu einer anderen Geschichte wird.
    Und dennoch ist sie die Einzige, die sie erzählen kann, und wenn schon nicht ganz, dann doch das Wichtigste, oder wenigstens einiges davon. Ein fremdes Gefühl von Dringlichkeit überkommt sie. Vielleicht liegt es am Alter. Sie kann nicht zulassen, dass diese Geschichte verschwindet.
    *
    Ich hatte eine Mutter.
    Ich hatte einen Vater.
    Reicht dir das nicht?
    Ich liebte und ich verlor.
    Das ist das Ende. Und auch der Anfang.
    Die alte Frau kämpft bis zum letzten Moment mit sich selbst, bis die Türglocke läutet und die Wände erbeben lässt.
    *
    Das ist keine der Geschichten, die das Publikum liebt. Alte Frau, gib ihnen etwas Leichtes, Optimistisches, mit einer spannenden Handlung. Der Held muss größer sein als das Leben, sagt ihre Enkelin. Strahlend, berühmt, wie aus dem Fernsehen. Trotz ihres Alters kennt die Frau die neuen Geschichten. Sie weiß, dass eine Geschichte erfolgreich ist, wenn sie die Zuhörer von der eigenen freudlosen und willfährigen Existenz wegführt. Die Leute haben genug Probleme, auch ohne Geschichten wie die ihre.
    Die Rezipienten des neuen Jahrtausends urteilen schnell. Sie glauben, genug gehört zu haben. Diese Geschichte, jene Geschichte, die Welt ist voller Geschichten. Sogar wer keine zu erzählen hat, beharrt auf seinem eigenen Bruchstück. Und wenn man es erzählt, soll das Bruchstück bekannt klingen. Es ist empfehlenswert, nur das zu erzählen, was bereits erzählt worden ist.
    Doch ihre Geschichte, verfault in ewiger Dunkelheit, kann nicht bekannt sein. Deshalb sind ihre Aussichten, Zuhörer zu finden, besonders gering. Tief in ihrem Herzen hofft die alte Frau auf eine feindliche Reaktion, die die Geschichte ein für alle Mal wegwischen würde.
    Doch sie ganz wegzuwischen ist unmöglich.
    Außerdem weiß sie, dass in ihrem Fall eine außerordentliche Mühe erforderlich ist, überhaupt zu erzählen. Weiterhin zu lieben, auch an Stellen, an denen die Geschichte ohne Liebe ist.
    Denn wenn sie die Geschichte erst losgelassen hat, werden die Leute sie anders erzählen. Dinge hinzufügen, andere weglassen, sie verzerren. Und sie hat nur ihre eigene Version, das Beste, was sie geben kann. Und in Gedanken fängt die alte Frau vorsichtig und behutsam an, Stacheln aus dem Körper der Geschichte zu ziehen, in der Hoffnung, sie damit wohlüberlegt und kontrolliert hervorzubringen.
    Wegen der Grausamkeit würde sie es lieber sein lassen.
    Vorläufig.
    *
    Das Mädchen sitzt ihr gegenüber, mit offenen Handflächen.
    Großmutter, erzähle.
    Sie schweigt.
    Großmutter, ich bin´s.
    Sie zieht noch immer Dornen heraus.
    *
    Sie ist nicht so alt, wie man annehmen würde. Doch da sie in den Augen ihrer Enkelin zu einer Welt gehört, deren Existenz zweifelhaft ist, nennen wir sie weiterhin »die alte Frau«, obwohl Alter, wenigstens in ihrem Fall, eine irrige Bezeichnung ist.
    Tatsächlich ist in ihrem Fall die Kindheit ein fester Wert und nicht frei von Nostalgie.
    Die alte Frau ist das Mädchen, das sie einmal war. Man muss sich allerdings davor hüten, den gegenwärtigen Körper in der Vorstellung mit kleinen Patschhänden zu versehen, mit Wangengrübchen und Milchzähnen. Und da das
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