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Und die Ratte lacht - Roman

Und die Ratte lacht - Roman

Titel: Und die Ratte lacht - Roman
Autoren: Persona Verlag
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mit einem weißen Kragen und langen Ärmeln.
    Oh ja. Das Dienstmädchen. Das scheint ein vielversprechender Anfang zu sein. Die Enkelin setzt sich gemütlich hin und breitet das Heft mit dem süßen Engel auf dem Umschlag auf ihren Knien aus. Das ist es, was sie sich vorgestellt hat: alles, was man für eine Geschichte braucht, sogar ein Dienstmädchen.
    *
    Sie schrie. Sie trat. Sie zerbrach Dinge.
    Warum bringt ihr mich zu Leuten, die ich nicht kenne? Ich war doch ein braves Mädchen. Ich habe alles getan, was man mir gesagt hat. Warum jagt ihr mich aus dem Haus? Mein Zimmer. Meine Puppe. Das Fenster mit dem Spitzenvorhang. Das Rosenmuster. Meine Mutter hat es gestickt.
    Ich habe euch lieb. Wie kann es sein, dass ihr mich nicht auch lieb habt?
    Ich gehe nicht. Ich will nicht. Nein.
    Ihr seid ein böser Vater und eine böse Mutter.
    Am Ende schlug sie nach ihnen.
    Nun war sie wirklich ein böses Mädchen. Es geschah ihr recht.
    So fängt die Geschichte wirklich an.
    *
    Die Enkelin duckt sich. Trotzdem ist sie entschlossen, fortzufahren. Ein armseliger Anfang deutet nicht zwangsläufig auf ein schlechtes Ende hin. Soweit es sie selbst betrifft, hat die Geschichte sowieso ein gutes Ende genommen. Die alte Frau ist schließlich ihre Großmutter.
    »Und es endete mit dem Tod.« Die Enkelin schreibt diesen Satz nicht in ihr Heft, denn die Geschichte hörte nicht so auf, jedenfalls diese Geschichte nicht.
    Aber die Drohung wurde von den Gebärenden zu den Geborenen weitergegeben und wurde zu einer ererbten Unzulänglichkeit. Eine Herausforderung für Wissenschaftler, die für einen Durchbruch in der Korrektur genetischer Defekte kämpfen. Die alte Frau nickt, resigniert vor der Unvermeidlichkeit genetischer Defekte. An einer Korrektur wird sie nicht teilhaben.
    *
    Sie gab nicht auf. Sie lehnte es ab, zu packen. Auch nicht die Puppe mit den Zöpfen. Am letzten Tag weigerte sie sich sogar, zu essen. Das Hungern wurde zu ihrer letzten Waffe. Auch zu diesem späten Zeitpunkt betont die alte Frau, dass sie nicht mitgearbeitet hat. Sie war wirklich das böseste Mädchen der Welt. Denn wenn man aus dem Haus gejagt wird, muss es einen Grund geben. Ihre Mutter sagte: Es ist nur zu deinem Besten, und ihr Vater sagte: Es ist nur für kurze Zeit.
    Alle Erwachsenen lügen.
    Die Enkelin hebt den Blick vom Heft. Bis jetzt hat es ausgesehen, als schreibe sie alles sorgfältig mit.
    Alle Erwachsenen lügen. Eine überflüssige Bemerkung.
    Die alte Frau hält inne. Die Geschichte verlangt sowieso eine Pause. Sie fürchtet, die Enkelin könne glauben, ihre Großmutter sage nicht die Wahrheit.
    Schließlich ist sie selbst erwachsen.
    Ohne Vertrauen ist die Geschichte in Gefahr, zusammenzubrechen.
    *
    Wenn man aus dem Haus gejagt wird, muss es einen Grund geben.
    Ein böses Mädchen.
    Ein überflüssiges Mädchen.
    Schade, dass sie geboren wurde.
    Es geschieht ihr recht.
    *
    Noch nie hatte sie das Haus ohne ihre Eltern verlassen. Noch nie hatten ihre Eltern sie verlassen. Sogar wenn sie im Sommer ans Meer fuhren, nahmen sie sie mit. Jetzt muss sie ohne sie leben. Mit fremden Menschen an einem fremden Ort. Warum nehmen sie sie nicht mit?
    Sie weinte die ganze Nacht. Ihre letzten Tränen. Die Mutter saß an ihrem Bett, versuchte sie in den Arm zu nehmen. Sie stieß sie weg. Der Zorn– das ist das Gerüst der Geschichte.
    Die alte Frau wird alles tun, um zu verhindern, dass das Gift über ihre Zuhörerin verspritzt wird. Die alte Frau hatte sie sich nicht ausgesucht. Sie zweifelt nicht daran, dass ihre Enkelin nicht die ideale Adressatin für diese Geschichte ist. Könnte die alte Frau wählen, hätte sie sich einen gleichgültigen, unbeteiligten Partner gewählt, einen distanzierten, der frei wäre von ihrem vererbten Defekt. Vielleicht wäre die Geschichte dann etwas glatter herausgekommen. Aber in ihrem Alter ist es eine Dummheit, auf den vollkommenen Zuhörer zu hoffen.
    Wenn man die Geschichte und ihre qualvolle Art, aus der Dunkelheit auszubrechen, beurteilt, wird man auch die Erzählerin sezieren. Vielleicht wäre ein anderes Vorgehen denkbar. Vielleicht wäre es besser gewesen, sich mit dem Anfang zu begnügen und das, was danach geschah, auf ein unschädliches Minimum zu begrenzen.
    Ohne alles gehört zu haben, wird auch die Mutter der Enkelin ihren Wert in Frage stellen, weil man ihrer Meinung nach manche Geschichten auf die beschränken müsse, die den zwielichtigen Bezirk, der die Kindheit von dem trennt, was danach kommt, schon
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