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Und die Ratte lacht - Roman

Und die Ratte lacht - Roman

Titel: Und die Ratte lacht - Roman
Autoren: Persona Verlag
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wachsende Gewicht ihrer Geschichte lässt keinen Raum für Erleichterung. Und jetzt gibt es keinen Weg mehr zurück.
    Lass mich nicht im Stich, scheint die Geschichte mit fast menschlicher Stimme zu flehen. Je tiefer sie die Geschichte begraben hat, umso wilder ist diese gewachsen und hat Wurzeln getrieben. Jetzt muss sie ihre Erinnerung anflehen, sie freizulassen. Sie braucht eine Vollmacht, damit sie endlich ihr Versteck verlassen kann.
    *
    Sie standen mit dem Rücken zu ihr.
    Ihre Mutter drehte sich nicht um, sagte kein Wort. Auch nicht auf Wiedersehen. Berührte sie nicht.
    Die alte Frau bekommt fast keine Luft. Die Geschichte ist zwischen Kehle und Mund stecken geblieben. Sie konnte nicht wissen, dass alles auseinandergefallen wäre, hätte ihre Mutter eine Bewegung gemacht, auch nur die kleinste, hätte sie einen Finger ausgestreckt, geblinzelt, die Lippe gekräuselt.
    Die Enkelin steht auf. Der alten Frau kommt es vor, als wolle das Mädchen sie berühren, aber wie von einem unbeherrschbaren Impuls getrieben, dreht sie ihr den Rücken zu.
    In diesem Moment scheint es zu Ende zu sein, dabei handelt es sich noch nicht einmal um die Mitte.
3
    Sie wurde in ein Loch unter der Erde gebracht. Die fremde Frau, die sie später »die Bäuerin« nannte, zog sie die Leiter hinunter und sagte, hier wirst du bleiben.
    Das Mädchen, das sie einmal war, hatte geglaubt, nur die schlimmsten Tiere würden unter der Erde leben, Maulwürfe, Schlangen, Würmer. Und die allerschlimmsten, die Ratten. Sie muss böser sein als alle, wenn man sie von den Menschen über der Erde trennte.
    Die alte Frau glaubt, dass sie das damals gedacht hat. Doch statt der Geschichte etwas hinzuzufügen, wie es üblich ist, lässt sie etwas aus.
    *
    Der Nachmittag in Tel Aviv ist eine schwere Zeit. Das Licht ist aggressiv. Die alte Frau gibt sich ihm nur selten hin. Im Allgemeinen verdunkelt sie die Fenster. Lässt die Rollläden herunter, um die Dunkelheit hereinzulassen, ihre vertraute Verbündete.
    Ihre Mutter und ihr Vater hatten ihr nicht gesagt, dass das Dort dunkel und unter der Erde war. Sogar das Dienstmädchen, das Bescheid wusste, hatte es vor ihr verborgen. Hätte die alte Frau von vornherein gewusst, was sie erwartete, hätte es ihr die Sache leichter gemacht? Kann sich ein Mensch auf die Möglichkeit vorbereiten, dass er in ein Loch unter der Erde gebracht wird?
    Das Mädchen, das sie einmal war, dachte: Vielleicht sterbe ich, denn nur die Toten werden so tief unter die Erde gebracht.
    *
    Warum nennt man die Hauptfigur einer Geschichte »Held«? Naive Menschen nehmen vielleicht an, dass man es deshalb tut, weil die Hauptfigur der Geschichte ihre Kraft verleiht, aber die Tatsache, dass eine Figur im Zentrum der Geschichte steht, verspricht nicht, dass sie die Geschichte heldenhaft trägt.
    Der Stil der alten Frau passt eher zur heutigen Zeit: Er ist abgehackt, springend, atemlos. Aber das liegt nicht daran, dass sie nicht genug Zeit hat oder es sie drängt, zu einem Punkt zu kommen, der besonders lohnend wäre. Auch nicht aus Rücksicht auf die Ungeduld eines Lesers.
    Die Enkelin sitzt ihr verwirrt gegenüber.
    *
    Die Dunkelheit.
    Hier gerät die Geschichte in eine Sackgasse. Der alten Frau fällt es schwer, die Dunkelheit jemandem zu erklären, für den sie eine Selbstverständlichkeit ist, ein Teil des Tag-Nacht-Zyklus, verbunden mit sicherem Schlaf, mit Traumleben.
    Und an diesem Scharnier der Geschichte neigt sie dazu, aufzugeben. Ihre Dunkelheit ist nicht das Fehlen von Licht und auch nicht das Gegenteil von Licht, sondern ein subkutanes Material mit Masse und Gewicht, dem es gelungen ist, die Gesetze der Natur aufzuheben und in jede Öffnung ihres Körpers einzudringen. Auch als sie in sich den Drang verspürte, sie zu beleuchten, vor allem dem gegenüber, mit dem sie Kinder bekommen hatte, erlosch diese Absicht sehr schnell, weil ihr klar wurde, dass ihre Dunkelheit sich jeder Formulierung widersetzte.
    Deshalb begnügt sie sich damit: Ich war im Dunkeln. Ein Brei aus Zeit. Ich weiß nicht, wann es begann und wann es endete.
    Falls es endete.
    *
    Und das sind die Details der Geschichte, die vorgeben, gewöhnlich zu sein. Die Kreaturen, die in der Dunkelheit lebten, erfassten ihre Anwesenheit. Eine Ratte trippelte auf sie zu, beschnupperte sie erst, dann biss sie zu. Sie schrie nicht, schließlich war sie es, die den Alltag der Ratte störte. Dann gewöhnten sie sich aneinander. Sie streichelte die Ratte, und diese wurde dick. Das
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