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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo
Autoren: Stefanie Zweig
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Mordshunger?«
    Liesel war sicher, dass sie die Stimme kannte. Es war ja das gleiche Krankenhaus, in dem Rose ihren ersten Schrei getan hatte. Mit ihrem Gedächtnis für Details hätte Liesel im Halbschlaf das Gebäude mit den klassizistischen Säulen zeichnen können, die Flure, die Türen und sogar die dreieckigen Tische mit den Hockern, die in kleinen Nischen standen. Die gleichen Bilder wie vor zwei Jahrzehnten hingen an den weiß getünchten Wänden - Damen der Gesellschaft mit weißer Perücke und in rosafarbenen Reifröcken, ernste Kinder mit Ringellöckchen, Königin Elizabeth, als sie noch Prinzessin war, mit einem Hund, und auf dem Weg zum Kreißsaal gab es eine Bildserie von einer watschelnden Entenmutter, die einen gelb-blau karierten Sonnenschirm hochhielt, um ihre Küken zu schützen. Selbst den scharfen Geruch der Putzmittel erkannte Lie-sel. Trotzdem beruhigte ihre Nase die Nerven. Wer, wenn nicht sie, hatte die Lektion gelernt, dass nur auf Kontinuität Verlass ist! Auf den Hockern, erschöpft an die Wand gelehnt, saßen die werdenden Väter. Liesel stellte sich vor, wie Emil vor neunzehn Jahren auch da gesessen hatte. Er hatte nie erzählt, was ihm das Leben in der Nacht angetan hatte, in der er Vater wurde. Den größten Teil der Wartezeit hatte er am Wiener Westbahnhof mit seinem Vater gestanden und auf den lebensrettenden Zug nach England gewartet, ein zehnjähriger Junge mit einer Nummer um den Hals, begleitet von einem Mann ohne Hoffnung. Erst Rose hatte mit ihrem ersten Schrei den Jungen ohne Wurzeln den Klauen seiner Vergangenheit entrissen.
    Emil hatte einen Parkplatz gefunden. Wieder saß er an der Wand. Liesel lief mit Rose von einem Ende des Flurs zum anderen. Auch das war ihr vertraut, das angespannte Auf und Ab, der angestrengte Abmarsch aus der Welt, in der ein Mädchen Kind sein durfte. Sie war froh, dass die Krankenschwester sie nicht alle wieder nach Hause geschickt hatte. Ihr und Emil war das passiert, aber Emil hatte sich um ihretwillen gewehrt. »Ich hatte damals noch mehr Angst als du«, erzählte Liesel, »obwohl ich ein ganzes Jahr älter war. Nein, dreizehneinhalb Monate.«
    »Seid ihr eigentlich sehr böse, dass mein Kind keinen Vater haben wird?«, fragte Rose.
    »Natürlich wird es einen Vater haben. Schau dir doch Daddy an. Er kann es kaum erwarten, wieder ein Baby in den Arm zu nehmen. Er war immer großartig mit euch beiden. Viel besser als ich. Und geduldiger. Und viel geschickter.«
    Die Schwester kam wieder. Das grüne Schild auf ihrem weißen Kittel ließ wissen, dass sie Prue hieß. Liesel schaute zu Emil hinüber, doch er hatte kein Gedächtnis für Frauen in gestärktem Kittel. Die werdende Großmutter rechnete damit, dass Schwester Prue sagen würde, erste Babys wären frech und rücksichtslos, aber sie sah Rose an und sagte: »Du kommst am besten gleich mit. Deine Mutter lassen wir erst mal hier, bis wir so weit sind, und wenn du willst, holen wir später auch deinen Mann.«
    Sie brauchten alle Zeit, um zu begreifen, dass die Schwester Emil für den Kindesvater gehalten hatte, und dann sagten sie alle gleichzeitig »Nein«. Liesel wähnte, nur sie hätte alles begriffen: Emil wirkte offenbar jung genug, um der Ehemann einer Neunzehnjährigen zu sein, sie aber durchaus wie eine Großmutter.
    »Mummy«, jammerte Rose, als Prue sie fortführte. Noch war es die alte Rose, die um Hilfe rief, das niedliche Kind im Ballettrock aus rosafarbenem Tüll.
    »Ich komme gleich nach«, rief Liesel in den leeren Flur. Sie merkte, dass Emil sie festhielt. »So eine impertinente, dumme Kuh«, drohte er in den leeren Flur, »anzunehmen, dass ich herumlaufe und kleine Mädchen schwängere. Das war einmal. Als ich dich traf. An einem wunderschönen Tag im Mai, den ich nie vergessen werde.«
    »Es war im März. Und es hat junge Hunde geregnet. Du musst David anrufen gehen.«
    »Hab ich schon. Stell dir vor, der Rabbiner war reizend. Hat mich seinen Sohn genannt und mir Gottes Segen gewünscht. David muss bald hier sein.«
    »Er ist schon hier«, sagte David. »Und er hat Samy und Martha angerufen. Die sollen hier ruhig merken, dass ein jüdisches Baby seine ganze Familie um sich haben will, wenn es auf die Welt kommt.«
    Sie hielten sich eng umschlungen, eine neue Einheit von Vater, Mutter und Sohn, und jeder dankte Gott auf seine Weise, dass Er Rose beschützt hatte. Der Vater in einem beigen Polohemd, das er in der Aufregung des Aufbruchs nicht mehr hatte wechseln können, sah
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