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Und das Glück ist anderswo

Titel: Und das Glück ist anderswo
Autoren: Stefanie Zweig
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einen Jungen, der begreift, dass er kein Kind mehr ist, war die Familie, zu der er zurückkehrte, die eigene. Einen Moment, den er fortan nicht mehr für alle Schätze der Welt hergegeben hätte, hielt er Rose tatsächlich für seine Enkeltochter. Emil nahm ihm die Koffer aus der Hand. »Es reicht, Samy«, sagte er, »du hast lange genug meine Last getragen.«
    Rose hielt den Kalender von Peter Rabbit wie ein Schutzschild vor ihren hervorgestreckten Leib. Vater, Mutter und Großmutter spürten, dass sie nicht wusste, zu wem sie gehen sollte, doch keiner der drei traute sich, ihr entgegenzulaufen. Die Heimkehrerin, die noch lange nicht zu Hause sein würde, schaute zu Boden. Sie hatte das Bedürfnis aller Töchter, in die Arme des Vaters zu rennen und zurückzukehren in die Zeit, da er ein allwissender, mächtiger König war, der nicht duldete, dass einer seine Toch-ter kränkte. So ein Mann beschützte seine Prinzessin vor Feinden und den Gespenstern der Nacht. Rose aber, schon zum Aufbruch in die Kindheit bereit, wurde unsicher und zögerte. Sie war keine Prinzessin mehr und auch nicht mehr das süße kleine Mädchen, das jeden mit seiner Schönheit entzückte. Sie war eine Frau, der das Schicksal nicht genug Zeit gelassen hatte, eine Frau zu werden, und bald würde sie eine Mutter sein. Künftig hieß es, sich davor zu hüten, mit der Unbefangenheit der Jugend den Einfällen des Herzens nachzugeben. Auf Rose lasteten nun für immer die Hemmungen der Töchter, die den Vater mehr lieben als die Mutter. Bei jedem Satz, den diese Töchter sagen, fürchten sie, die Mutter könnte ihr Geheimnis entdecken und verletzt sein. Es war die Großmutter, die der geknickten Blume zuzulächeln wagte, denn sie kannte sich aus. Martha war die Mutter einer Tochter, die nie ihre Liebe hatte zeigen können. So ließ sich Rose im Moment, da von ihr die alte Entscheidung gefordert wurde, wen sie mehr liebte, die Mutter oder den Vater, von einem Lächeln ihrer Großmutter ermutigen. Sie lief an ihrem geliebten Vater vorbei und auf die Mutter zu.
    »Willkommen zu Hause«, schluckte Liesel, »ich bin so glücklich. So schrecklich glücklich.« Sie wollte mit der Tochter weinen, aber ihre Augen blieben trocken.
    Es war eine alte Geschichte, doch sie schmerzte immer wieder aufs Neue. Begonnen hatte das erste Kapitel des nie mehr wieder gutzumachenden Missverständnisses an einem Montag im September 1939, als die Eltern ihre Tochter zum ersten Mal im Internat in Nakuru abliefern mussten. Sieben Jahre alt war Liesel damals gewesen und klüger als die meisten Siebenjährigen; sie konnte bereits vorwärts und rückwärts bis hundert zählen und eine ganze
    Menge von Buchstaben zu Worten zusammensetzen, aber bis zum Buchstaben V war sie noch nicht gekommen. Von der Verlassenheit und der Verzweiflung eines verwundeten Kindes, das nicht begreift, was ihm angetan wird, wusste sie nichts. In der Stunde der Trennung hatte Liesel, seit Tagen zur Tapferkeit und Haltung ermahnt, die Eltern mit dem Trotz von Kindern angeschaut, die ungerecht behandelt worden sind. Die Hände waren tief in den Taschen des neuen Rocks vergraben, die Lippen so fest aufeinander gepresst, dass sie einander wärmten. Ohne ein einziges Mal zurückzuschauen, war das kleine Mädchen in seine neue Welt gelaufen - erschrocken, entsetzt, tief verletzt, doch, wie befohlen, tapfer, mit trockenen Augen und hoch erhobenem Kopf. Noch zwei Tage vor seinem Tod erwähnte der Vater, dass seine Tochter, sein einziges Kind, sich zum Abschied von Vater und Mutter getrennt hatte, ohne zu weinen, ohne zu winken und ohne ein Wort zu sagen. »Mein Vater«, berichtete Liesel, als sie ihrem Mann von ihrer ersten Bewährungsprobe als Erwachsene erzählte, »hat mir das nie verziehen. Er hat nie etwas gesagt, aber ich hab’s gespürt. Er fand mich herzlos.«
    »So dumm ist kein Vater«, hatte Emil widersprochen, »und einer, dessen Tochter erlebt hat, wie die Nazis ihr Elternhaus verwüsteten und er auf der Straße verprügelt wurde, schon gar nicht.«
    »Daddy« war Rose’ erstes Wort. Zu diesem Daddy, der nicht Nein sagen konnte und in der Nacht ihrer Geburt geschworen hatte, dass er sie so verwöhnen würde wie die schönste Königstochter im Schlaraffenland, war sie gelaufen, wenn sie ihr Knie aufschlug, ihr Dreirad kaputt war und als ihr Bruder behauptete, eine Puppe könnte weder hören noch sprechen und hätte Sand im Kopf. Auf Emils
    Schoß hatte sie gelacht und geweint, der Welt gedroht und
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