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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman
Autoren: C.H.Beck
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unvorhergesehen gestorben ist. Wir werden durch glückliche oder unglückliche Fügungen geboren, und manchmal ist es sogar der Zufall, der uns auslöscht. Er korrigiert seine Fehler nicht. Das ist es, was ich Marianne sagen muß. Es gibt Phasen des Nicht-Zufalls, in denen das Leben zäh dahinfließt, durch nichts unterbrochen.
    Irma schaltete das Diktaphon ein, aber es wollte ihr nichts mehr einfallen.
    Sie blickte auf die Maschine, die sie seit zweieinhalb Jahren am Leben erhielt. Was die Nieren nicht mehr schafften, hatte eine Filtermembran übernommen, sie wusch die giftigen Substanzen dreimal pro Woche mehrere Stunden lang aus Irmas Blut, entzog ihrem Körper jene Flüssigkeit, die er nicht mehr auf normalem Wege auszuscheiden vermochte. Irma konnte es gar nicht glauben, daß Abgeschlagenheit, Übelkeit, Kreislauf- und Schlafprobleme ein Ende haben sollten.
    Wir stehen alle seit Monaten und Jahren auf der Liste, hatte Marianne einmal gesagt, und wenn es uns trifft, wenn man uns endlich aus unserer Misere rauszieht, können wir es nicht fassen. Das Glück ist unglaubwürdig geworden.
    Auf dem Weg in die Röntgenabteilung sah Irma eine Frau mit verweinten Augen. Sie blätterte in einer Illustrierten. Dahinter saß ein Mann, der sein Gesicht mit den Händen zudeckte. Unbekanntes Unglück, dachte Irma, Biographien, für die ich keine Sprache haben werde. Sie ertappte sich dabei, wie sie innerlich Greta nachäffte, diese gesunde Besserwisserin, die die Organtransplantation als Kannibalismus bezeichnet hatte.
    Wir würden den Sterbenden das Leben rauben. Was für Leben,fragte sich Irma. Himmel, die sich nicht mehr zeigten; Münder, die nicht mehr sprachen. Herzen, die aufgrund von Maschinen schlugen. Röcheln. Gluckern. Zuckungen, die nichts bedeuteten.
    Sie zog das Handy aus ihrer Jackentasche, wählte Richards Nummer. Ein junger Arzt ging an ihr vorbei, sagte aber nichts. Es dauerte eine Weile, bis Richard abhob.
    Â«Hast du schon geschlafen? Ist mit Florian alles in Ordnung?» Der Linoleumbelag in der Mitte des Korridors hatte jeden Glanz verloren.
    Â«Alles okay, meine Liebe. Mach dir keine Sorgen. Brauchst du noch was?»
    Ich habe ihn aufgeweckt, dachte Irma.
    Richard räusperte sich, hustete.
    Â«Ich war bis jetzt an der Maschine, deswegen hab’ ich nicht früher angerufen.»
    Â«Du mußt dich nicht entschuldigen. Ich kann sowieso nicht schlafen», sagte Richard. «Ich schau’, daß ich da bin, wenn du aufwachst.»
    Â«Nicht nötig. Paß lieber auf Florian auf. Gute Nacht.» Daß sie Angst habe, wollte sie noch sagen, aber er hatte aufgelegt.
    Â«Einatmen. Luft anhalten.» Sie überhörte das Klicken des Röntgenapparats. In der Leere und Kälte des Raumes fielen ihr Fragmente des Traumes ein. In den letzten Wochen hatte sie immer wieder die Dünen vor Augen gehabt, den weißen Sand, der über die Wüste wanderte. Obwohl sie nie dort gewesen war, träumte sie immer wieder von Expeditionen auf den Steilhängen der Dünen; waren sie beim Aufstieg noch leicht begehbar, löste sich auf dem Grat eine Lawine nach der anderen. Die Schuhe füllten sich mit Sand; Irma rutschte. Und die Sandkörner, einmal in Bewegung gesetzt, kamen lange nicht mehr zum Stillstand.
    Könnte ich nur wie die Strauße in eine Art lethargischen Zustand verfallen, dachte Irma, einen Sommerschlaf halten, wenn die Situation unerträglich wird.

III
    Ich stand mit Vittorio oberhalb der Piazza del Popolo am Rande des Parks der Villa Borghese und schaute in den Himmel: Immer mehr Stare sammelten sich. Sie kehrten in Gruppen von der Futtersuche zurück und formierten sich zu großen Schwärmen, die hin und her wogten. Wenn sie noch nicht so viele waren, flogen sie schneller und in geringerer Höhe, hatten sie sich einmal zusammengefunden, um sich ihrem Schlafplatz zu nähern, schwenkten sie auf und ab. Unten rasten Autos an der Kirche vorbei, oben versammelten sich immer mehr Vögel, kamen aus allen Himmelsrichtungen.
    Â«Vittorio», sagte ich, «laß uns nach Hause gehen. Ich bin müde.»
    Er reagierte nicht, betrachtete die Formationsflüge. Er hatte eine Hand auf der steinernen Balustrade liegen, mit der anderen zupfte er an seinem Nackenhaar. «Die Auguren», sagte er, «haben ihre Chancen für wichtige politische Entscheidungen aus den Vogelflügen abgelesen.»
    Â«Und wie
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