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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman
Autoren: C.H.Beck
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klingeln.»
    Er prüfte mit der freien Hand seine Uhr, indem er sie ans Ohr hielt. «Die wird mich überleben», sagte er und ließ mich los.
    Mancini hatte Rossi aus dem Zimmer geholt und schob ihn auf einem Sessel durch den Gang. «Aber er kann doch gehen», sagte ich, «lassen Sie ihn.»
    Â«Er will es so.»
    Ich fragte mich, wie sich die beiden verständigten. Rossi bewegte nur die Lippen, manchmal so heftig, daß sich in den Mundwinkeln Speichelreste sammelten.
    Â«Der weiße Schaum sind die Wörter, die wir nicht hören»,hatte Marta einmal gesagt. Rossis Hände waren immer in seinem Gesicht, vielleicht wußte er, daß da etwas war, das weggewischt gehörte, doch seine Finger waren steif, es fiel ihm schwer, die einzelnen Bewegungen zu koordinieren. Er tastete über seine Nase, die Augen, die Stirn. Die Wörter blieben in den Mundwinkeln.
    Vor Lucchis Zimmer stand der Wäschewagen. Ich hatte gar nicht bemerkt, daß meine Schicht zu Ende war.

II
    Nichts schob sich zwischen den Himmel und das abgeschabte Skelett, nur ein paar ausgetrocknete Büsche am Horizont. Der Wind wehte und trieb die feinen Staubpartikel über den Körper. Trockenheit modellierte Bruchlinien, Abschuppungen und Spalten in den Boden. Der aufgewirbelte Sand sammelte sich, ließ Dünen entstehen, wachsen und wandern, bis sich die Wellen und Flächen wieder im Sturm verloren. Die Sandkörner drangen wie Nadelstiche in die Haut.
    Irma kratzte sich, wälzte sich, rollte über Schotterfelder ohne Schattenschutz. Da waren nur welke Sträucher, einzelne Halme in Mulden, wie Kanülen in den Beugen stehengelassen. Die Luft vibrierte, keine Wolken. Irma tastete über die Kratzspuren, die Verkrustungen und Faltungen – ein Klingeln.
    Sie setzte sich auf, schüttelte sich, fiel zurück ins Bett und griff nach dem Schalter. Der Strahl der Lampe fuhr ihr in die Augen. Bevor sie noch «Hallo» sagen konnte, erinnerte sie sich an Mutters terrorisierten Blick; alle waren damals im Korridor zusammengelaufen: Vater in seinem gestreiften Pyjama, Mutter mit ihren von der Angst unkoordinierten Bewegungen, Richard, der ältere Bruder, der sich sogleich aufdie Kommode gesetzt und die Arme vor der Brust verschränkt hatte.
    Wer in der Nacht anruft, kann nur der Tod persönlich oder dessen Botschafter sein, hatte Mutter gesagt. Diese körperlosen Stimmen aus dem Hörer waren ihr ohnehin unheimlich gewesen.
    Irma sah sich im Türrahmen zum Kinderzimmer stehen, sah Mutter als erste nach dem Hörer greifen. «Ja?» Sie hatte den Kindern eingeschärft, in der Nacht niemals den Namen zu nennen, als könnten sie sich dadurch dem Unglück entziehen. Späte Stimmen, die ins Haus drangen, bedeuteten nichts Gutes. Allein das Stocken zu Beginn des Anrufs, das bloße Atmen ließ die Welt aus den Fugen geraten. Mutters «Ja?» war damals ein lautes «Nein, das ist nicht wahr» gefolgt. Sie hatte sich an der Garderobe festgehalten. Wieder und wieder hatte Irma ihre Mutter sagen hören: «Nein, das ist nicht wahr. Nein. Nein.» Dann war sie in die Schuhe geschlüpft. «Ich komme sofort.»
    Â«Hallo», sagte Irma mit brüchiger Stimme, und noch einmal: «Hallo.» Sie bekam das Gesicht der Mutter nicht aus dem Kopf. Kein Klingeln ohne Erschrecken. Jedesmal sah sie vor sich, wie alle im Korridor zusammenliefen, obwohl Irma schon lange allein lebte, allein mit ihrem Sohn.
    Â«Frau Irma Svetly? Allgemeines Krankenhaus. Wir haben eine Niere für Sie.»
    Irma stand neben dem Telephon, die Hand lag auf dem Hörer. Im Halbdunkel des Vorzimmers fand sie ihr Gesicht im Spiegel. Kopf, Arme, die zittrigen Beine, das weite T-Shirt – da waren nur noch Bruchstücke. Wohin mit Florian jetzt in der Nacht?
    Sie begann durch die Wohnung zu laufen, machte alles gleichzeitig, zog sich aus, griff nach dem Kulturbeutel, nach einem frischen Handtuch, streifte sich das alte Kleid über, suchte das Adreßbuch, um es wieder zurück auf den Schreibtischzu legen, packte das Diktaphon in die Tasche und mußte an Marianne denken, die seit vier Jahren an der Maschine war. Marianne wartete auf einen Anruf wie diesen, wartete, daß die Abhängigkeit ein Ende haben würde, sich die porösen Knochen erholten. Sie wartete mit geborgter Geduld. Und wieder hatte es nicht Marianne getroffen.
    Ich muß Richard anrufen, dachte Irma. Aber Richards
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