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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman
Autoren: C.H.Beck
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dann aber doch in den oberen Stock begleiten. Die Kraft, mit der sie sich eben noch gegen mich gewehrt hatte, schien sie nun in ihre gefalteten Hände zu legen. Die Fingerspitzen waren stark gerötet, die Knöchel traten weiß hervor.
    Â«Sie müssen sie anbinden, wenn Sie allein sind», sagte ich zu meiner Kollegin.
    Gegen zwei Uhr früh rief Vittorio an. Er behauptete, ich hätte nicht auf seine Mobilbox gesprochen, ihn nicht über meinen Nachtdienst informiert.
    Â«Jetzt erst merkst du, daß ich nicht zu Hause bin», sagte ich.
    Â«Ich suche dich seit einer Stunde.» Im Hintergrund lief der Fernseher, ich konnte Vittorio kaum verstehen.
    Â«Ich habe dich aber angerufen», sagte ich laut.
    Â«Das glaub’ ich nicht.» Er klang müde, dabei war er heute gar nicht im Geschäft gewesen.
    Â«Du bist ziemlich zerstreut in letzter Zeit.»
    Â«Du meinst wohl dich selber.»
    Ich horchte auf; da war er wieder, dieser Tonfall. Obwohl Vittorio mich in den letzten Monaten freundlich und zuvorkommend behandelt hatte, war etwas Gereiztes in der Stimme, das mir neu war.
    Â«Na schön, vielleicht habe ich einem Fremden auf die Box gesprochen.»
    Wir schwiegen beide; ich konnte hören, wie er schluckte.
    Â«Tut mir leid», sagte er, «da war wirklich keine Nachricht.»
    Nachdem wir telephoniert hatten, war es lange ruhig im Haus; auch aus der Frauenabteilung drang kein Klingeln in den unteren Stock, kein lautes Rufen. Ich hoffte insgeheim, daß Lucchi läuten würde, weil ich gerne etwas über diesen Neffen erfahren hätte, doch sooft ich in sein Zimmer schaute, schlief er fest, so fest, daß ich mich mehrmals zu ihm hinunterbeugte, um zu hören, ob er überhaupt noch atmete.
    Ich ruhte mich auf der Eckbank in der Küche aus und dachte an Vittorio. Unter
Gewählte Rufnummern
hatte ich seine Telephonnummer gefunden, auch das gestrige Datum und die Anrufzeit 21.15 Uhr. Ich überlegte, ihn zurückzurufen, um ihm zu sagen, ich könnte es ihm beweisen.
    War wenig zu tun, dehnten sich die Nächte. Ich wußte nie, was mir lieber war: die Stille in der Küche, die nur vom Klicken des Zeigers und vom gelegentlichen Rattern des Kühlschranks unterbrochen wurde, oder das ständige Klingeln der Heimbewohner. Manchmal, wenn tagsüber keine Zeit gewesen war, um ein paar Stunden vorzuschlafen, schlug die Müdigkeit mir auf den Magen, oder meine Schläfen schmerzten.
    Von sechs Uhr bis Dienstschluß mußten die Pflegefälle gewaschen werden. Im Sommer, wenn es an Personal mangelte, war diese Arbeit in einer Stunde nicht zu bewältigen. Oft versuchte ich, früher damit anzufangen, doch diejenigen, die noch sprechen konnten, beschwerten sich, daß ich sie so zeitig aus dem Schlaf riß.
    Mancini war Frühaufsteher; wenn ich die Küchentür öffnete, stand er schon im Eingangsbereich vor dem Kaffeeautomaten und suchte im Aschenbecher nach Kippen. Es war der einzige Ort im Haus, wo Rauchen erlaubt war. Hatte ich die Pflegefälle versorgt, begleitete er mich zu den anderen, von Zimmer zu Zimmer.
    Â«Später, Herr Mancini.»
    Ich konnte es nicht erwarten, Lucchi aufzusuchen, doch Carelliklingelte an diesem Morgen zum dritten Mal; erst mußte ich ihm die Illustrierte geben, die ich am Abend auf den Tisch gelegt hatte, dann ein Glas Wasser holen. Nun lag seine Uhr auf dem Boden. Zwischen dem Bett und der Kommode war gerade so viel Platz, daß man die Laden rausziehen konnte. Als ich mich bückte, um die Armbanduhr aufzuheben, griff er mir an den Busen.
    Â«Carelli!»
    Er grinste. «Bleiben Sie doch hier, bei mir», sagte er und hielt mich am Arm fest. Er hatte ein Einzelzimmer, weil er bereits mit neunundvierzig ins Heim gekommen war. Seit seiner Geburt litt er an Gelenksversteifungen, die Arme waren davon weniger betroffen. Seine Mutter, mittlerweile selbst pflegebedürftig, hatte sich nicht mehr um ihn kümmern können. Lange Zeit hatte Carelli den Wunsch gehegt, in seinem Bett ein Ei auszubrüten. Er hatte es sogar zweimal versucht. Daß es ihm nicht gelingen wollte, lag weniger daran, daß er die absolute Brutruhe nicht hätte einhalten können, als an der zu niedrigen Bruttemperatur und der zu geringen Luftfeuchtigkeit. Damit ein Küken schlüpfen konnte, brauchte es konstant 37,8 Grad.
    Â«Was soll ich noch tun? Sagen Sie es lieber gleich. Ich komme dann nicht mehr, egal wie oft Sie
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