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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman
Autoren: C.H.Beck
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«Geburtsstuhl», der den Geist seiner Entstehungszeit widerspiegele, für die späteren, farbigeren Versionen konnte er sich nicht begeistern.
    Ich hätte nicht rangehen sollen, aber jetzt war es zu spät. «Die Hitze! Unvorstellbar!» Vittorios Mutter stöhnte in den Hörer. Nein, das sprenge jedes Vorstellungsvermögen. «Unbeschreiblich!» Gestern abend habe das Gebläse noch funktioniert. Man könne doch nicht jedes Jahr eine neue Anlage kaufen.
    Â«Vittorio ist auf dem Weg zu dir», sagte ich schnell, aber sie hörte mir nicht zu. Sie bleibe keine Minute länger in ihrer Wohnung. Diese Temperaturen seien lebensgefährlich. «Unmöglich. Das könnt ihr mir doch nicht zumuten.»
    Ich hielt den Kopf schief, drückte den Hörer gegen die Schulter, damit ich die Hände frei hatte, um die trockene Wäsche zusammenzufalten. «Vittorio», wiederholte ich, «muß jeden Moment da sein.» Sie fing wieder von vorne an. Ich ließ sie reden, und wenn sie Atem holte, für Augenblicke Stille eintrat, preßte ich meine Wut in Höflichkeitsfloskeln. Erst nachdem es an ihrer Wohnungstür geklingelt hatte, legte sie auf.
    Fast jeden Morgen war ich um fünf Uhr wach, manchmal war es kurz vor sechs, selten später. Kaum kam ich zu Bewußtsein und versuchte mich an etwas zu erinnern, fiel mir auch schon ein, was es war: Wir hatten wieder nicht miteinander geschlafen. Ich lag da, bewegungslos, mit geöffneten Augen.
    Vittorio schlief auf dem Rücken, atmete gleichmäßig. DieArme hielt er über dem Kopf verschränkt. Ich betrachtete sein Gesicht, die über Nacht gewachsenen Bartstoppeln, die auf dem Kinn bereits weiß waren. Er sah zugleich selbstbewußt und schutzlos aus. Obwohl in der Wohnung über uns die Zwillinge der Nachbarn herumtrampelten und auf der Straße die Alarmanlage eines Autos losheulte, rührte er sich nicht, einzig die Finger seiner Hände, die er locker zu Fäusten geballt hielt, öffneten sich für einen Moment, schlossen sich aber gleich wieder.
    Â«Deine Finger üben das Fliegen», sagte ich zu Vittorio beim Frühstück.
    Er trank stehend seinen Espresso, sah schon zum zweiten Mal auf die Armbanduhr. «Was meinst du damit?»
    Â«Nichts.»
    Â«Irgend etwas meinst du doch.» Er stellte die Tasse in die Spüle und öffnete für einen Moment den Wasserhahn. Über die Jahre hatten wir unsere Bewegungen so aufeinander abgestimmt, daß wir uns in der kleinen Küche nicht in die Quere kamen. Wir mußten einer dem anderen nicht einmal den Vortritt lassen. War Vittorio im Bad, bereitete ich mir meinen Obstsalat zu, kam er in die Küche, um die Caffettiera in Gang zu setzen, stellte ich mich unter die Dusche. Wenn ich fertig angezogen war, roch es bereits nach Kaffee. Er setzte sich nie hin, obwohl es einen Hocker gab, den man an die Anrichte schieben konnte.
    Â«Du bewegst deine Finger, während du schläfst», sagte ich.
    Â«Was ist daran ungewöhnlich?» Er schob sein linkes Knie hinter die Kühlschranktür, damit sie nicht zufiel, während er einen Schluck Milch in meine Tasse goß. Ich mußte an die warme Luft denken, die sich im Kühlschrank ausbreitete, vermied aber, ihn darauf aufmerksam zu machen.
    Â«Vittorio, ich wollte mit dir –»
    Â«Es wird spät heute», sagte er und strich mit dem Zeigefinger zweimal über meinen Nasenrücken. Er nannte mich «meine Liebe», bevor er sich umdrehte, um nach seiner Mappe zu suchen.
    Es hat keinen Sinn, ihn zurückzuhalten, überlegte ich und nippte am Kaffee. Ich betrachtete den ausgebesserten Küchenboden; an einer Stelle war der Terrazzo durch Zement ersetzt worden. Mitten auf dem mit bunten Natursteinstücken vermengten Estrich war eine kleine graue Insel zu sehen. Ich mußte daran denken, wie wenig ich die Lage der Wohnung mochte. Sowohl die Fenster als auch der Balkon gehen auf Wohnblöcke hinaus. Dabei war ich einmal der Stadt wegen hierher gezogen.
    Vittorio hob den Arm, um zu grüßen, sah mich aber nicht an; er zupfte an der Bügelfalte seiner Hose, dann fiel die Wohnungstür ins Schloß.
    Ich trank den Kaffee aus, deckte den Obstsalat mit einem Teller zu und stellte ihn in den Kühlschrank. Im kleinen Fenster über der Spüle sah ich, wie eine Taube mit hochgerecktem Körper und gefächertem Schwanz auf dem Geländer des Balkons landete.
    Ich
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