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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman
Autoren: C.H.Beck
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gab eine konkrete Antwort. «Wir müssen abwarten», hatte der Pfleger gesagt und einen neuen Infusionsbeutel an den Ständer gehängt. Es sähe nicht schlecht aus, beruhigte sie die junge Assistenzärztin. Irma betrachtete den ungewöhnlich hellen, fast weißen Scheitel, der die schwarzen Haare teilte, und die schmale Hornbrille, schlief wieder ein.
    Der Lichtstreifen, der Stirn und Augen traf, war warm. «Wie geht es Ihnen?» Ständig wechselten die Gesichter. Auch dasZimmer hatte sich verändert. Statt der Kacheln sah Irma ein Fenster, dessen Vorhänge halb zugezogen waren. Auf dem Tisch hatte jemand eine Vase mit Blumen abgestellt. «Ihr Bruder war da», sagte der Pfleger. Er zog die Decke zurecht, strich über das Leintuch. Seine Handgriffe waren schnell und fest. Irma bewegte sich nicht. Sie fürchtete, der Schmerz würde bei der geringsten Regung zuschlagen, die Kopf- und Gliederschmerzen würden sich verschlimmern.
    Das Nachbarbett war belegt, aber leer. Auf dem Nachttisch lagen mehrere Bücher, die Tageszeitung. Jemand öffnete die Tür, schaute herein, rief nach dem Pfleger. Vom Gang her waren Stimmen zu hören, das Schreien einer Frau.
    Â«Sie ist angesprungen», sagte der Pfleger und lächelte, dann zog er die Tür hinter sich zu.
    Das Druckgefühl im Wundbereich wurde stärker. Irma hob den Kopf; sie nahm jetzt zum ersten Mal den Blasenkatheter wahr, die Drainagen. In der Halterung am Bettende steckte die Mappe, in die der Pfleger die Flüssigkeitsmenge eingetragen hatte, die ihr weiterhin über die Vene zugeführt werden sollte. Sie hatte nicht die Kraft nachzusehen, ob Temperatur, Puls und Blutdruck in Ordnung waren, hatte vergessen, was an ihrem Bett gesprochen worden war. Einen Augenblick glaubte sie sich zu erinnern, am frühen Morgen zur Duplex-Sonographie gebracht worden zu sein. Sie war sich plötzlich sogar sicher, daß man sie auf ihrem fahrbaren Bett in einen Aufzug geschoben und in ein anderes Stockwerk gerollt hatte, dann wieder zweifelte sie, ob der Blutstrom in der Niere bereits gemessen und für normal befunden worden war. Der Sand, die Wüste – Irma schloß die Augen, sah wieder die Schraffuren der Felsen vor sich, die Kämme und Spalten. Sie fuhr mit der Zunge über die Lippen, ertastete kleine Hautfetzen, versuchte sie mit den Schneidezähnen loszulösen, bis da und dort kleine Risse entstanden, die ein wenig bluteten und brannten. Siehätte jetzt gerne etwas getrunken, aber das war nicht erlaubt, und die Zitronenstäbchen, mit denen die Krankenschwester – oder war es doch ein Pfleger – noch in der Nacht die Lippen befeuchtet hatte, konnten den Durst nicht vermindern, im Gegenteil; der süßliche Geschmack würde das Verlangen nach einem Glas Wasser jetzt nur verstärken. Sie sehnte sich nach der Fettcreme, mit der die Zahnarztassistentin die Lippen bestreicht, bevor sie die Zähne zu reinigen beginnt. Überall dieser Sand, dachte Irma, während sie mit den Zähnen knirschte. Von fern vernahm sie eine Stimme. Sie sah Florian vor sich auf einem bunten Handtuch, wie er Puzzle-Würfel ordnete; er beschattete seine Augen, wenn er Irma ansah. So sehr sie sich auch bemühte, ihm beim Zusammenstellen eines Bildes zu helfen, es gelang ihr nicht, die verschiedenen Motive auseinanderzuhalten. Der Schnabel des Raben ersetzte den Elefantenrüssel. Die Beine des Känguruhs hingen am Rumpf der schwarzweiß gefleckten Kuh. Und der Wind hörte nicht auf, ihnen den feinen Staub ins Gesicht zu blasen. «Wie geht es Ihnen?» Die Stimme rückte näher. «Schmerzen?»
    Wieder überflutete das Licht den Raum; Irma kniff die Augen zusammen, öffnete sie erneut. Da war noch ein anderer Satz gewesen. «Es geht, aber meine Lippen sind so trocken», hörte sie sich sagen, während sie dieser Freude, die sich unerwartet in ihr ausbreitete, die entscheidenden Worte zuzuordnen versuchte. «Sie ist angesprungen.» Richards alte Vespa fiel ihr ein, damals im Regen am Schottentor; sie hatte nicht mehr funktioniert, die Zündkerzen waren feucht geworden. Aber in Irma drinnen war jetzt etwas in Gang gekommen, es bewegte sich offenbar noch immer. Sie atmete schneller, setzte sich auf, ertastete unter der Decke ihren Bauch, wagte sich nicht vor bis zu der Stelle. Schwindel erfaßte sie, als käme sie jetzt aus der Wüste, als läge der nackte Boden hinter
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