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Über jeden Verdacht erhaben

Über jeden Verdacht erhaben

Titel: Über jeden Verdacht erhaben
Autoren: Jan Guillou
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Hamilton, eine Doublette geschossen hatte: Das eine Tier war ein kapitaler Damhirsch mit einem Geweih an der Grenze zum Bronzemedaillen-Format, und das zweite Stück Damwild war ein Schmaltier. Sämtliche Tiere waren perfekt erlegt worden, und die Suchpatrouille, die sich mit vielsagendem Grinsen, das sich deren Mitglieder immer dann erlaubten, wenn sie der Ansicht waren, daß »die Grafen und Barone« gerade nicht hinsahen, bereitgemacht hatte, nach weidwund geschossenen Tieren zu suchen, mußte unverrichteter Dinge zu ihrem VW-Bus zurückkehren und ihre eifrigen und bellenden Hunde einsammeln.
    Und danach war der Tag ebenso erfolgreich weitergegangen, wie er angefangen hatte. Einen ganzen Tag lang wurden ebenso viele Tiere erlegt, wie Schüsse abgefeuert worden waren, was sogar bei den Gelegenheiten ungewöhnlich ist, bei denen der Schloßadel sich zusammenfindet und ohne Außenstehende auf die Jagd geht.
    Eine derart gelungene Jagd ist anschließend eine Garantie für ein gelungenes Festessen. Unter den Gästen ist niemand, der sich schämt und getröstet werden muß; alle haben einen erfolgreichen Tag hinter sich, und die Ehre dafür läßt sich in einer fast sozialistisch zu nennenden Ordnung freigebig verteilen, einer Ordnung, in der niemand vornehmer ist als der andere. Das Essen begann also wie gewöhnlich um 19.00 Uhr, eine Stunde nach Schließung der Wahllokale, und damit war das Schicksal der Nation definitiv entschieden. Die Stimmung war natürlich ausgezeichnet, was nicht so sehr daran lag, daß die Jagd erfolgreich verlaufen war, sondern daran, daß niemand einen Mißerfolg hatte hinnehmen müssen. Es wurden die Reden gehalten, wie die Sitte sie verlangt. Feierliche Ansprachen der verschiedensten Art, angefangen bei der Rede Claude Hamiltons, des Jagdkönigs, die von seinem Vetter Raoul Hamilton mit gespieltem Neid kommentiert wurde, bis hin zur Ansprache Thottens, der sich im Namen aller für die Einladung bedankte, da die Gastgeberin seine Tischdame war.
    Merkwürdig war nur eins: Alle saßen dort und waren jeder für sich davon überzeugt, daß in diesem Augenblick das Schicksal der Nation und vielleicht auch des eigenen Hofs – die Bezeichnung Schloß ist in Adelskreisen verpönt – entschieden wurde, ohne daß man erfuhr, wie die Abstimmung ausgegangen war. Es wäre unverschämt gewesen, die Tafel nur aus einem solchen Grund zu verlassen.
    Die Problematik war der Gastgeberin durchaus bewußt. Natürlich fühlte sie sich erleichtert, weil die Jagd erfolgreich gewesen war, denn ein Mißerfolg hätte das Essen auf mehr als nur eine Weise zerstört. Erstens ist es überhaupt traurig, wenn eine große Jagd mit bestimmten Ansprüchen zum Teufel geht. Zweitens gibt es beim Essen ohnehin besondere Probleme.
    Das eine Problem war die Doppelgräfin. Sie hieß jetzt Wachtmeister-Hamilton, war jedoch eine geborene Jönsson. Sie war nacheinander mit einem Wachtmeister und dann einem Hamilton verheiratet gewesen. Sie hatte beide überlebt, um danach mit einem pensionierten sozialdemokratischen Politiker zusammenzuziehen, der zwar mit einigem Anstand einen dunklen Anzug tragen konnte, in allem übrigen aber Sozi war, wie sehr er auch den Staatsmann und nach seiner Pensionierung als Botschafter auch den frischbekehrten Konservativen zu spielen versuchte. Die Doppelgräfin wurde hier nicht gern gesehen, und dieser Spitzname leitete sich natürlich von der Tatsache her, daß sie jetzt mit ihrem Emporkömmling nur »verlobt« war, da sie bei einer Heirat die beiden gräflichen Namen verlieren würde. Aus verschiedenen gesellschaftlichen Gründen wäre es jedoch schwierig gewesen, sie nicht einzuladen. Ihr »Verlobter« war zum Essen und zur Jagd offiziell eingeladen worden, hatte jedoch wie erwartet abgesagt.
    Das zweite Problem war Estelle Hamilton. Dieses war aus der Sicht der Gastgeberin ein komplizierteres und schwerer zu meisterndes Problem; wenn die Gäste auf die Idee gekommen wären, der Doppelgräfin den Rücken zuzukehren, hätte man dies nicht der Gastgeberin anlasten können.
    Doch bei Estelle Hamilton sah das auf mehr als eine Weise anders aus. Sie war wahrhaftig keine Jönsson, die eingeheiratet hatte. Das war es nicht.
    In gesellschaftlicher Hinsicht war es eher umgekehrt. Sie war inzwischen so alt, daß sie von jedem der Anwesenden besondere Aufmerksamkeit und Höflichkeit verlangen konnte. Sie war auf diese oder jene Weise mit mehr als der Hälfte der Anwesenden verwandt. Gelegentlich setzte sie
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