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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Autoren: Carl Hanser Verlag
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überhaupt sind nur wenige Dinge in dem Roman, den ich schreibe, heilig. Nicht einmal Hölderlin ist darin heilig, sondern wird auch einmal an die Wand geschmissen, wie ich Ihnen nächsten Dienstag schildern werde. Nicht einmal die Toten werden geheiligt, nur an bestimmten Orten.
    Im Augenblick heißt der Roman, den ich schreibe, Das Leben seines Großvaters . Gemeint ist damit der Großvater des Sohns, Vaters, Manns, Liebhabers, Freundes, Romanschreibers, Berichterstatters, Orientalisten, der Nummer zehn oder von Navid Kermani, der deshalb meist als Enkel firmiert. Im Vertrag ist ein anderer Titel genannt, der auf die Toten anspielt, um die es von der ersten Seite an geht, und ein wenig auf die Lehre von Baso Matsu. An einen Großvater habe ich nicht gedacht, als ich mit dem Roman begann, den ich schreibe. In der ersten Fassung taucht der Großvater gar erst auf Seite vierhundertdreiundfünfzig auf, aber als sich die Möglichkeit auftat, den Roman, den ich schreibe, zu veröffentlichen, und ich deshalb mit der zweiten Fassung begann, habe ich seinen ersten Auftritt nach vorn verlegt, nicht sehr weit nach vorn, nur gerade soweit, daß auch diejenigen nicht zu früh aufhören zu lesen, die sich in einem Roman für die Handlung interessieren. Jean Paul braucht in manchen Romanen, die er schrieb, ebenfalls sehr lang, bevor die Handlung einsetzt; in den Biographischen Belustigungen etwa beginnt die annoncierte Geschichte, da ist das Buch schon zur Hälfte vorbei. Und seine Vorreden erst! Es dürfte keinen Autor geben, der seinen Romanen so viele Vorreden vorangestellt hat wie Jean Paul, etwa vor dem Siebenkäs die Vorrede der ersten, die Vorrede der zweiten, die Vorrede der dritten Auflage, die Vorrede des ersten Teils, die Vorrede des zweiten Teils und, nein, der dritte Teil fängt tatsächlich ohne Vorrede an:
     
    Es hat mich oft verdrüßlich gemacht, daß ich jeder Vorrede, die ich schreibe, ein Buch anhängen muß. 1
     
    Warum Jean Paul? Die Antwort führt in den Roman ein, den ich schreibe. Wie die meisten Seelenreisen beginnt auch meine in einer Situation von subjektiv höchster, wenngleich in meinem Fall gewöhnlichster Not, die Liebe am Boden, zugleich die Frau schwer erkrankt, so daß der Gedanke an Trennung nicht ausgesprochen werden darf, das gemeinsame Kind allein zu versorgen, fehlende Anerkennung, tiefgreifende Selbstzweifel, finanzielle Engpässe, Lohnarbeiten, die Tage von Terminen zerstückelt, die der Romanschreiber, um ihn einmal so zu nennen und nicht jedesmal auch vom Sohn, Vater, Mann, Liebhaber, Freund, Berichterstatter, Orientalisten, der Nummer zehn oder von Navid Kermani zu sprechen, die Tage also von Terminen zerstückelt, die der Romanschreiber nicht selber festlegt. Um einen Ort zu haben, an dem er so fern ist wie ein Heiliger in der Höhle, nimmt er sich freilich sehr nahegelegen ein Büro, das eine Wohnung zu werden verspricht. Ein Schreiner, der mit 78 Jahren so alt ist wie der Vater des Romanschreibers, fertigt eine Schreibtischplatte an und ist so freundlich, vom Baumarkt zwei Malerböcke mitzubringen, auf die sie die Platte legen. Von Jean Paul ist hier noch keine Rede. Einige Monate oder 297 Seiten der zweiten Fassung später, genau gesagt am 3. April 2007 um 11:23 Uhr, weil die Uhrzeiten in dem Roman, den ich schreibe, sehr wichtig sind, muß der Romanschreiber einen neuen Platz für seinen Bürocontainer suchen, weil an der Wand, wo der Container bisher steht, weitere Regale angebracht werden sollen, um auch die Bücher unterzubringen, die im Keller lagen, seit er viele, viele Jahre zuvor mit der Frau zusammenzog, die inzwischen wieder gesund geworden ist. Mit Hilfe des Studenten, der die Regale anbringt, hebt der Romanschreiber die Schreibtischplatte hoch und tauscht den Container gegen einen der beiden Malerbökke aus, die der Schreiner trotz seines Alters so freundlich vom Baumarkt mitgebracht hat. Da ein Container nicht so hoch ist wie ein Malerbock – wie viele Zentimeter der Unterschied beträgt, ließe sich im Baumarkt nachmessen, ein gewöhnlicher Container ohne Rollen neben einem Malerbock –, ist die Schreibtischplatte allerdings schief. Mit dem ersten Band der Dünndruckausgabe von Jean Pauls Werken, die so viele Jahre schon im Karton lag, stellt er die Balance wieder her und beeindruckt mit seinem genialischen Einfall den Studenten, der mit Hilfe seiner Wasserwaage bestätigt, daß ein gewöhnlicher Bürocontainer ohne Rollen zusammen mit dem ersten Band der
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