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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Autoren: Carl Hanser Verlag
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kompliziert erscheinen, die für einen Romanmanifakturisten nur die nächstliegenden sind, sollte mit Jean Paul vielleicht gar nicht anfangen oder sich auf das beschränken, was die Blütenlesen seit Stefan George so hübsch geordnet anbieten. Figuren treten als Ich-Erzähler auf, die Jean Paul zitieren, der sie überträfe, und Leser führen Klage gegen einen gleichnamigen Autor, weil der zu oft abschweife. Sie wollen Literatur, er das Leben, in dem es nun einmal nicht zugeht wie in einem Roman. Jean Paul führt die Romanen-Manufakturisten, uns alle, nicht mehr nur vor, indem er über sie spottet, sondern indem er sie in der Simulation abwechselnd beschleunigt und verlangsamt, das gewöhnliche Sagen in das jeweilige Extrem treibt, Verdichtung und Ausdehnung, wie es die Traktate an mystischen Zuständen erklären, deshalb neben dem Erhabenen auch das Niedrige, neben dem Idealisierenden das Nüchterne, neben dem Verschrobenen das Bodenständige, um sich den beiden gegensätzlichen Polen menschlichen Daseins anzunähern. Niemals sagt Jean Paul: eine Winterlandschaft, es müssen etwa im Siebenkäs , da Firmian bei einem Spaziergang an einem Kinderbegräbnis vorbeikommt, zum Leichenbegängnis passend »die ausgekleideten Gefilde« sein, »über welche noch die Wiegendecke des Schnees und der Milchflor des Reifs geworfen werden mußte«.
     
    An einem solchen Dezembertage beklemmt uns die falbe stockende Welt von starren blutlosen Gewächsen um uns und die unter sie niedergefallnen, mit Erde bedeckten Insektenkabinette und das Sparrwerk bloßer, runzliger, verdorrter Bäume – die Dezembersonne, die am Mittag so tief hereinhängt als die Juniussonne abends, breitet, wie angezündeter Spiritus, einen gelben Totenschein über die welken, bleichen Auen aus, und überall schlafen und ziehen, wie an einem Abende der Natur und des Jahrs, lange riesenhafte Schatten, gleichsam als nachgebliebene Trümmer und Aschenhaufen der ebenso langen Nächte. Hingegen der leuchtende Schnee überzieht nur, wie ein um einige Schuh hoher weißer Nebel, den blühenden Boden unter uns, der blaue Vorgrund des Frühlings, der reine dunkle Himmel, liegt über uns weit hinein, und die weiße Erde scheint uns ein weißer Mond zu sein, dessen blanke Eisfelder, sobald wir näher antreten, in dunkle wallende Blumenfelder zerfließen. Weh wurde dem traurigen Firmian auf der gelben Brandstätte der Natur ums Herz. Die täglich wiederkommende Stockung seines Herz- und Pulsschlages schien ihm jenes Stillestehen und Verstummen des Gewitterstürmers in der Brust zu sein, das ein nahes Ausdonnern und Zerrinnen der Gewitterwolke des Lebens ansagt. 11
     
    Allein mit diesem Spaziergang, auf diesen paar Zeilen, in denen Firmian erst den Sarg eines Kindes, dann eine Landschaft erblickt, die beide, das Kind und die Landschaft, »aus dem Fötusschlummer in den Todesschlaf« 12 übergehen, hat Jean Paul tiefer in die Schöpfung geblickt als andere Schreiber in ihrem ganzen Roman, holt er den Prediger auf, nimmt er Beckett voraus, trifft er sich mit Hölderlin und ist vor allem ein Mystiker, der wie alle Mystiker in der Natur die eigene Seele erkennt, man denke nur . . . warum nicht auch an die Lehre des Zen-Meisters Baso Matsu.
    Aber so ausufernd Jean Paul an der einen Stelle über einen einzigen Anblick meditieren kann und damit die Handlung verlangsamt, beschleunigt er anderswo eine ganze Liebesgeschichte zu einem einzigen Satz, von der Befangenheit des Anfangs über den ersten Kuß bis zur Ekstase, in die der Kuß ausartet, und das alles auch noch mit Witz wie im Quintus Fixlein :
     
    Vor einer solchen magischen Gestalt, vor einer solchen verklärten Liebe zerschmolz ihr mitleidender Freund zwischen den Flammen der Freuden und Schmerzen und versank, mit erstickten Lauten und von Liebe und Wonne niedergezogen, auf das gute blasse und himmlische Angesicht, dessen Lippen er blöde drückte, ohne sie zu küssen, bis die allmächtige Liebe alle ihre Gürtel um sie wand und beide enger und enger zusammenzog, und bis die zwei Seelen, in vier Arme verstrickt, wie Tränen ineinanderrannen. 13
     
    Und während man selbst noch verzückt ist von dem so unbeholfenen Ausbruch glühender Empfindungen, frohlockt Fixlein selbst bereits zu Beginn des nächsten Kapitels nur mehr wie ein Prüfling,
     
    daß er nun das Antrittsprogramm der Liebeserklärung gleich hinter sich hatte. 14
     
    Nicht nur in ihrer Unordnung, der Gleichzeitigkeit und Gleichgültigkeit der Wahrnehmung
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